In „Ein jeder Engel ist schrecklich“ erzählt Susanna Tamaro davon wie sie aufgewachsen ist und wie sie zum Schreiben gekommen ist. Dabei gewährt sie den LeserInnen sehr intime Einblicke in ihre von widrigen Umständen geprägte Kindheit und Jugendzeit innerhalbs einer lieblosen Familienstruktur.
Susanna Tamaro ist ein von Ängsten getriebenes, entmutigtes, empfindsames Kind. Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich in einer Gegend mit viel Sonne geboren wäre, fragt sie sich, denn Triest, wo sie aufwächst, ist klimatisch von der eiskalten Bora beeinträchtigt.
Wir lesen vom düsteren Dasein eines unglücklichen Mädchens mit unglücklichen Eltern, die sich abschotten und in eisiges Schweigen hüllen. So endet Susannas Wissbegier in einer Sackgasse voller unbeantworteter Fragen. Dazuhin wird sie von ihrem älteren Bruder, der das trostlose Schicksal mit ihr teilt, immer wieder gepiesackt. Auch die Großeltern können dem Kind nicht die nötige Zuwendung vermitteln. Ihre Wohnung, in der Susanna mit dem Bruder einmal in der Woche zugegen ist, ist unbeheizt und dunkel. Einzig ein Kerosin-Ofen, spendet Wärme und ein wenig Licht, und das kleine Mädchen sitzt oft bis zum Abend vor den Glasscheiben dieses Ofens und beobachtet die züngelnden Flammen.
Tamaro berichtet von der katholischen Kirche mit ihren Ritualen, die in ihr stets ein Befremden auslösen.
Eine Zeitlang soll sie den Platz ihrer mit zwanzig Jahren verstorbenen Tante einnehmen und Reitstunden nehmen. Wenigstens hiervon rettet die Mutter sie irgendwann.
Einzig Gianna, das Kindermädchen, wird zur Gefährtin glücklicher Nachmittage. Doch eines Tages kommt Gianna plötzlich nicht mehr.
Der neue Partner der Mutter, dessen Stimme das Kind als „Wirtshausstimme“ bezeichnet, macht die Situation nur schlimmer. Das Mädchen fühlt sich mehr denn je unwillkommen und benachteiligt. Die Mutter steuert ihren Teil dazu bei, indem Susanna zu einem Psychiater geschickt und in ein Heim abgeschoben wird.
Zum Glück entwickelt Susanna bereits als kleines Mädchen eine starke Naturverbundenheit. Sie ist fasziniert von den Naturwissenschaften, die zu ihrem Rettungsanker werden, weil sie hier eine plötzliche Ordnung erkennt. In den Naturwissenschaften lernt Susanna den Ursprung ihrer Fragen zu begreifen, lernt Sinn und Richtung zu verstehen. Sie ist gefesselt davon, den Dingen auf den Grund zu gehen, eine Spur zu finden, die Erklärungen gibt. „Diese Leidenschaft für die Naturwissenschaften ist die tiefste Wurzel meines Schreibens“, bekennt Tamaro. Indem sie in die Wunderwelt des Universums eintrat, konnte sie sich der unverständlichen Welt der Menschen entziehen.
„Alle Bücher, die ich geschrieben habe, sind Reisen in die Tiefe des menschlichen Herzens – der komplexeste, unbekannteste und faszinierende Kontinent, den zu erforschen uns gegeben ist“, sagt Tamaro. Dabei bedeutet Schreiben für sie strengste Disziplin, eine Tyrannei, der man sich unterwerfen muss.
So wie das Buch beginnt – mit der eiskalten Bora, endet es auch wieder mit dem heulenden Wind, der die Fensterläden erzittern lässt.
Susanna Tamaro bleibt sich auch in diesem biografisch ausgerichteten Roman treu, indem sie essentielle Fragen aufwirft. Zerstörerisches eindringlich und anrührend zu schildern, ist ihre große Stärke.
Susanna Tamaro: Ein jeder Engel ist schrecklich.
Piper, Mai 2014.
304 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.