Die Autorin und Kritikerin Susan Sontag (1933-2004) lebte und arbeitete in New York City. Sie war als intellektuelle und kritische Stimme in den USA und darüber hinaus bekannt. Vor allem ihre Essays über Fotografie sind viel beachtet. Am 21. September 2020 veröffentlichte der Carl Hanser Verlag Susan Sontags Erzählungen erstmals auf Deutsch unter dem Titel „Wie wir jetzt leben“ in einer Übersetzung von Kathrin Razum. Die Originalerzählungen erschienen zwischen 1984 und 1992.
In dem schmalen Buch finden sich fünf Erzählungen, von denen die erste und titelgebende „Wie wir jetzt leben“ und die letzte „Wallfahrt“ die herausragenden sind.
In „Wie wir jetzt leben“ schreibt Susan Sontag über einen Freund, der an Aids erkrankt ist. Sie nennt die Krankheit nicht bei ihrem Namen, doch jeder weiß was gemeint ist. Sie lässt die Freundinnen und Freunde des Mannes sprechen. Er selbst bleibt ohne Namen. In einem atemlosen Schwall von Meinungen, Kommentaren und Beschreibungen, in den Sontag kaum einen Punkt setzt, reden die Freunde über ihren nun kranken Freund: „Erst hat er nur abgenommen, sich nur etwas angeschlagen gefühlt, sagte Max zu Ellen, und Greg zufolge war er nicht zum Arzt gegangen, weil er es schaffte, mehr oder weniger im gleichen Rhythmus weiterzuarbeiten, allerdings hörte er, wie Tanya anmerkte, mit dem Rauchen auf, was nahelegt, dass er Angst hatte, aber auch, dass er, mehr als ihm bewusst war, gesund sein wollte, oder jedenfalls gesünder, vielleicht wollte er auch nur wieder ein paar Kilo zunehmen, sagte Orson, denn, fuhr Tanya fort…“ (S. 9).
Die Freunde äußern sich besorgt, nehmen Anteil, kümmern sich. Zuweilen treten sie in einen Konkurrenzkampf darum, wer sich am meisten und besten um den kranken Freund bemüht. Die Gesunden betrachten den Kranken und sind bei allem Mitleid auch froh, nicht selbst betroffen zu sein. Es gibt viele Stimmen in dieser Erzählung, die den damaligen Stand des Wissens aus den 1980er Jahren über Aids widerspiegeln. Sontag fasst diese Stimmen zu einem Chor zusammen, der sich vor die eigentliche Hauptperson stellt, sie übertönt und hinter dem sie verschwindet.
In „Wallfahrt“ erzählt Susan Sontag von ihrer Begegnung mit Thomas Mann, die tatsächlich Ende 1947 in Kalifornien stattgefunden hat. Sein Roman „Der Zauberberg“ hatte Sontag zutiefst beeindruckt. Die Begegnung mit dem großen Schriftsteller verlief dann aber so enttäuschend, dass sie einleitend schreibt: „Alles rund um meine Begegnung mit ihm trägt die Farbe der Scham.“ (S.66). Dieses ewig nachhallende Erlebnis wird von Sontag mit Humor und Ironie zu einer Erzählung über ihre Leidenschaft zur Musik und zur Literatur und ihrer peinlich empfundenen Erkenntnis über den Unterschied zwischen der Person des Schriftstellers und seinen Büchern.
Die Erzählung „Beschreibung (einer Beschreibung)“ kommt wie eine Übung oder eine Anleitung zum Schreiben einer Beschreibung daher. So fühle ich mich als Lesende an den Titel ihrer Tagebücher 1964–1980 „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ erinnert.
Und auch die folgende „Briefszene“ gleicht einer Sammlung von Überlegungen zum Schreiben von Briefen als Form in der Literatur zum Thema Liebe.
In „Der Blick aus der Arche oder Dialog zwischen einem Nachkommen Noahs und einem Vogel“ ist ein rhetorischer Exkurs in Rede und Gegenrede über den Menschen und die von ihm durchaus beeinflussbare Wahrnehmung von Wirklichkeit.
Das Nachwort von Verena Lueken bietet hilfreiche Informationen zum Kontext und Verständnis der Erzählungen.
So sind in „Wie wir jetzt leben“ Erzählungen versammelt, die Susan Sontags Denk- und Schreibfreude und das Können von beidem ebenso repräsentieren wie ihre Essays und Schriften. Lesenswert!
Susan Sontag: Wie wir jetzt leben: Erzählungen.
Hanser Verlag, September 2020.
128 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.