Stephen King: Mr. Mercedes

stephKaum war das Buch auf dem Markt, hörte man es von allein Seiten raunen: „Ein King ohne übernatürliches Element“, „kein typischer King“. Es hört sich für mich an wie eine Spur von Enttäuschung, weil es sich nicht um die neue, modernisierte Version von „Christine“ handelt – jenem Roman, in dem es wirklich das Auto war, das durchknallte. „Mr. Mercedes“ hat kein Horrorelement und ehrlich gesagt braucht es auch keines. Stephen King führt uns auch nicht den ganz gewöhnlichen Wahnsinn als den Horror des normalen Lebens vor, jedenfalls nicht ausschließlich. „Mr. Mercedes“ ist vielmehr ein von vorne bis hinten wohldurchdachtes, ja beinahe komponiertes Werk, das mit der Entwicklung des Kriminalromanes, des Krimis wie des Thrillers, seit seinen Anfängen spielt. Und das macht er verflixt gut.

Als erstes haben wir den geschiedenen, übergewichtigen, frustrierten ehemaligen Detective, der wenige Monate nach seiner Verrentung sein Leben nach den nachmittäglichen Talkshows ausrichtet, herrlich altmodisch ist und jeden Tag daran denkt, sich umzubringen. Mir fällt jetzt kein Klischee mehr ein, dass hierbei ausgelassen worden wäre. Und natürlich leidet er noch an seinem letzten, ungelösten Fall – eben dem des Mercedes-Mörders. Dabei war ein nie gefasster Täter mit einem gestohlenen Mercedes in eine vor dem amerikanischen Jobcenter versammelte Menge gerast. Allein der Fall an sich (ausgerechnet die Frühaufsteher unter den Arbeitssuchenden trifft es – und ein Baby ist auch noch dabei) ist schon so eine herrliche Schablone, dass nur ein Meister wie King daraus noch einen guten Roman machen kann – fast hat man den Eindruck, es war seine Absicht, genau das zu beweisen.

Als nächstes tritt der Mörder auf den Plan, den seine geniale Tat ebenfalls nicht loslässt und der zur Krönung noch eben jenen Detective in Rente Bill Hodges endgültig in den Selbstmord treiben will. Sozusagen als Beweis seiner Fähigkeiten. Brady Hartfield entspricht bis ins letzte Detail dem Täter, den man bekommen würde, wenn man die Täter aller modernen Krimiserien durch den Mixer jagen würde. Latent sexuelle Mutterbeziehung, kein Vater, Nerd, geregeltes Arbeitsleben (als Eisverkäufer!!! Unter anderem), geringe Tötungshemmung durch Tötungsdelikt in der Kindheit, Alkoholikermutter. Und bis in die Haarspitzen von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt. Deswegen ist er es, der den Fall wieder in Bills Tagesgeschehen bringt, indem er ihm einen Brief schreibt und ihn in ein Internetportal einlädt.

Hier kommt Jérôme ins Spiel: der Antiklischeeschwarze des Romans. Hilfsbereit, hochintelligent, aus reichem Haus mit guter Bildung. Bei seiner Charakterisierung durch den Täter tritt wohl mit am deutlichsten zutage, wie beabsichtigt der Autor mit all diesen Klischees spielt. Denn Brady kann sich sehr darüber erregen, dass die Familie nicht bereit ist, sich in die ihr seiner Ansicht nach zustehende Rolle zu fügen, sondern sich erdreistet, ihren Kindern weiß klingende Namen zu geben.

Unvermeidlicherweise entsteht eine zukunftslose Beziehung zwischen Bill und der Frau, die so etwas wie seine Klientin ist und natürlich sind es am Ende viele kleine Mädchen, deren Leben mit einem großen Knall enden soll.

Abgesehen davon, dass „Mr. Mercedes“ ein Roman ist, den man aufgrund der Spannung schlecht aus der Hand legen kann, werden auch diejenigen auf ihre Kosten kommen, die schon immer gerne Krimis gelesen haben und Spaß am Entschlüsseln der vielen Anspielungen haben. Denn genau das passiert während des Lesens. Was bei einem anderen Autor wahrscheinlich als bloßes Imitat Althergebrachten, als triviale Wiederholung längst Geschriebenen wirken würde, wird bei „Mr. Mercedes“ zur Kunstform. Da passt plötzlich jedes Detail genau dahin, wo es steht. Vom Fedora für den Ermittler bis zum Täter, der selbst vor dem geliebten Familienhund nicht zurückschreckt. King spielt auf der Erwartungshaltung des Lesers Orgel und es scheint ein Hin- und Rückspiel zwischen Autor und Leser stattzufinden – nur dass der Autor dem Leser immer noch einen Schritt voraus ist. Sonst wär es ja ein langweiliger Roman.

Fazit: Ich versuch immer noch rauszukriegen, wie er das Buch so verflixt gut machen konnte.

Stephen King: Mr. Mercedes.
Heyne, September 2014.
592 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Regina Lindemann.

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