Der Zweite Weltkrieg scheint ewig zu dauern, auch wenn die Expansion im Osten still steht. Walter Proska hat Heimaturlaub und fährt mit einem Versorgungszug zu seiner Schwester. Unterwegs erscheint eine geheimnisvolle, schöne Fremde. Wanda. In der Nähe von Tamaschgrod verschwindet sie. Kurz darauf zerstört eine Explosion den Zug. Walter, der einzige Überlebende, wird von einem Kameraden gefunden. Mitten in den Sümpfen liegt sein Quartier, das nun auch Walters neuer Kriegsschauplatz wird.
Walter soll auf eine ganz bestimmte Art gegen die Partisanen ‚kämpfen‘.
»… Willst du schießen mit Flinte auf Mücken? Sie sind vielleicht hundertfünfzig, wir sechs und ein Unteroffizier, wo hat Verantwortung. … Sie schießen selten und wir schießen selten. Nu, was hast du davon, wenn du ärgerst Elefant? Knallt er dir eines mit Rissel und aus ist.« (S. 55)
Der ungleiche Kampf endet für Proska erschreckend schnell mit der Stürmung ihres Quartiers. Leben oder Sterben ist eine Frage, die mit Bedingungen geknüpft ist.
Sein ebenfalls gefangener Kamerad hat hierzu eine persönliche Philosophie entwickelt:
»… Es werden Bosheit, Falschheit und Grausamkeit ungeniert angewendet. … Was sind eigentlich Gesetze? Geordnete, gezügelte Brutalität. … Warum bin ich hergegangen, ohne mich zu sträuben? … Weil sie mich erschossen hätten? … Die Pflicht dem Staat gegenüber ist eine Art Trockenbegeisterung, Enthusiasmus in Blechdosen, haltbar, versandfertig, unbeschränkt lagerfähig. … Ein Staat müßte moralisch sein wie die Natur. Es sollte nur Untertanen der Moral oder des Gewissens geben. Die Demut als Verfassung; erster Artikel: Barmherzigkeit.« (S. 194/195)
Proska will leben und Wanda lieben. Für ihr Überleben kämpft er nun auf der gegnerischen Seite seinen Kampf. »… Zwei Soldaten, zwei Klumpen Leben hockten stumm nebeneinander, wie Tauben auf dem Zeiger einer Turmuhr. Der Zeiger bewegte sich zwar langsam, unmerklich, aber er bewegte sich, und die beiden erfahrenen Männer bereiteten sich darauf vor zu stürzen, herabzukippen, in die Schlucht der Entscheidungen.« (S. 240)
Siegfried Lenz (1926-2014) hatte seinen zweiten Roman »Der Überläufer« 1951 nach umfangreichen Überarbeitungen erneut vorgestellt. Sein Verlag lehnte aus unterschiedlichen Gründen ab, obwohl in der »ZEIT« vorab eine wohlmeinende Literaturkritik erschien. Die Nachfrage nach Kriegsberichten von Augenzeugen sei gesunken. Dass »der Überläufer« viel mehr als die spannende Lektüre eines Zeitzeugen ist, darf der Leser heute selbst erfahren. Einerseits wird der Überlebenskampf für Mensch und Natur literarisch verarbeitet, andererseits wird die Sinnlosigkeit des Krieges thematisiert. An einer Stelle erklärt ein Soldat: »…Wer den Krieg von Berufs wegen treibt, ist ein Verbrecher. Die da oben tun es. Und wir sitzen hier im Sumpf. Man sollte sie umlegen, dann hätten wir Ruhe. Dann könnten wir alle nach Hause gehen. Aber man kommt ja nicht heran an diese Klicke …« (S. 196)
Die »Klicke« und ihr System hat zusammen mit Proska überlebt. Und Proska, der symbolische Soldat, findet trotz seiner starken Hände im Frieden keinen Frieden. Aktuelle Bezüge machen den lange in Siegfried Lenz Schublade ruhenden Roman zeitlos und zeitnah zugleich.
Mehr kann Literatur kaum bieten.
Siegfried Lenz: Der Überläufer.
Hoffmann & Campe, Februar 2016.
368 Seiten, gebundene Ausgabe, 25 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.