Es gibt sie noch, die modernen Märchen. Dafür bedarf es eines italienischen Drehbuchautors und Regisseurs, der in seinem ersten Roman zwar nicht die „fabelhafte Welt der Amélie“, dafür aber die nicht weniger fabelhafte Welt des Michele erschaffen hat. Der sonderbare Einzelgänger lebt in seinem Bahnhofswärterhäuschen und sammelt Gegenstände, die Fahrgäste im Zug vergessen haben. Vor über zwanzig Jahren ist seine Mutter in einen dieser Züge gestiegen und nie wieder heimgekehrt. Seitdem misstraut Michele allen Menschen. Bis eines Tages die quirlige Elena in seine Alltagsroutine platzt. Wenig später findet Michele im Zug einen persönlichen Gegenstand. Sein altes Tagebuch, das seine Mutter bei ihrer Abreise mitgenommen hat …
Dies bildet den Auftakt zu einer Suche, die Micheles weitere Zukunft bestimmt. Obwohl er schon dreißig Jahre alt ist, hat er sich seit dem Verschwinden der Mutter und dem frühen Tod des Vaters kaum mehr weiterentwickelt und der „Welt da draußen“ entsagt. Liebe und Lebenserfahrung sind ihm fremd. Doch mit Elena an seiner Seite wagt er den Sprung ins Unbekannte. Gleich einer antiken Heldenreise begegnen ihm auf seiner Suche unterschiedliche Menschen, er macht gute und schlechte Erfahrungen. Am Ende findet er nicht die erhofften Antworten, sondern etwas Besseres. Währenddessen kommt er Elena näher, sein Schutzpanzer erhält Risse. Allerdings scheint auch sie ein Geheimnis zu hüten.
Bereits nach wenigen Sätzen wird der Leser in einen emotionalen Ausnahmezustand hinein katapultiert. Ein Kind, das von der eigenen Mutter verlassen und seitdem als verlorene Seele vom Leben abgehängt wird – wen berührt das nicht? Zumal es der Autor trefflich versteht, den literarischen Stil an Micheles Welt anzupassen. Salvatore Basile zitiert in Kindersprache aus dem Tagebuch des Siebenjährigen und kennzeichnet den erwachsenen Michele durch liebenswert schrullige Marotten. Michele und Elena geben ein außergewöhnliches Paar ab. Beide sind verletzt und kompensieren ihren Schmerz ganz unterschiedlich. Michele auf die introvertierte, Elena auf die extrovertierte Art. Sie erkennen, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen müssen. Unabhängig davon, was ihnen durch andere Menschen widerfahren ist.
Dieses Buch führt die Themen Verlust, Hoffnung und Neubeginn vor Augen. Durch die malerische Umgebung rund um den fiktiven Ort Miniera di Mare und die südländische Lebensart bewahrt das Buch seine Leichtigkeit. Am Ende driftet der Roman ein wenig ins Fantastische ab. Doch als Leser sind wir längst dem Charme des Geschriebenen erlegen.
Fazit: Die fabelhafte Welt der Amélie hat Konkurrenz bekommen. Begeben wir uns nach Italien und folgen den Spuren eines verlorenen Gegenstandes. Für Romantiker und alle, die es werden wollen.
Salvatore Basile: Die wundersame Reise eines verlorenen Gegenstands.
Blanvalet, März 2017.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.