Fast ein Kilogramm wiegt das Buch, aber nicht nur deshalb ist der Roman ein schweres, ein gewichtiges Werk.
Die Unsichtbaren erzählt von den Bewohnern der kleinen norwegischen Insel Barrøy, dem verwitweten Martin, seinem Sohn Hans mit seiner Frau Marie und ihrer gemeinsamen Tochter Ingrid sowie Barbro, Hans‘ Schwester. Die Handlung setzt ein, als Ingrid drei Jahre alt ist, einige Jahre vor Beginn des ersten Weltkriegs.
Es geschieht nicht viel im Leben der Inselbewohner und doch ist jedes Ereignis überlebens-entscheidend. Jede Neuerung kommt einem Sakrileg gleich, alle Veränderungen müssen lange überdacht werden. Vor allem vor sich selbst gerechtfertigt werden. Wenn Hans ein Gebäude von außen streichen möchte, eine Idee, auf die noch niemand vorher kam, wenn er ein Pferd auf die Insel bringen möchte, dann spricht er nicht mit den anderen darüber, macht es mit sich allein aus und entscheidet dann. Nicht immer ist er dann hinterher glücklich mit seiner Entscheidung.
Es wird kaum geredet in diesem Roman, die Menschen sind wortkarg, jedoch ohne gefühlskarg zu sein. Die Gefühle brodeln in den Männern und Frauen und der innere Druck findet keinen Ausdruck. Es gibt wenig Dialoge im klassischen Sinn, die meisten der Gespräche, die überhaupt so genannt werden können, werden in indirekter Rede dargestellt. Ein überaus wirkungsvolles Stilmittel, um die Sprachlosigkeit der Menschen plastisch zu machen.
Der Roman besteht aus drei Teilen, wovon der erste die Kindheit und Jugend von Ingrid beschreibt, ihre Zeit in der Schule, wo sie sich das Lachen abgewöhnt, weil es nicht gewünscht ist, dass ein Mädchen lacht. Die monatelangen Fahrten des Vaters zu den Lofoten für den Fischfang, ohne den die Familie kein finanzielles Auskommen hätte. Ingrid nimmt eine Stelle als Haus- und Kindermädchen an und bleibt eines Tages allein zurück mit den von ihr betreuten Kindern, die sie, fast selbst noch ein Kind, dann bei sich auf der Insel aufnehmen und wie ihre eigenen aufziehen wird.
Im zweiten Teil, 1944, kehrt Ingrid allein auf die Insel zurück, die anderen Familienmitglieder sind in alle Winde verstreut. Sie richtet sich so gut es geht ein, bis sie eines Tages mehrere angespülte Leichen entdeckt, Opfer eines Schiffsuntergangs. Und schließlich auch einen schwer verletzten Überlebenden. Sie pflegt ihn, kann sich mit ihm aber nur bruchstückhaft verständigen, denn er ist ein aus deutscher Gefangenschaft geflohener Russe und sie verstehen einander nicht. Sie versteckt ihn vor den deutschen Besatzern und den mit ihnen kollaborierenden Norwegern. Ingrid verliebt sich in den russischen Soldaten und wird von ihm schwanger. Er jedoch muss weiter fliehen und Ingrid erfährt nicht, ob er den Krieg überlebt oder wieder in Gefangenschaft gerät.
Der dritte Teil schließlich zeigt Ingrid nach dem Krieg auf der Suche nach dem Russen, dem Vater ihrer Tochter Kaja. In diesem Teil trifft Ingrid viele Menschen im Landesinneren von Norwegen und Schweden, die so ganz anders sind als die Menschen vom Meer, die sie bisher kannte. Und vor allem trifft sie Menschen, die vergessen wollen. Das ist das vordergründige Thema des dritten Teils:
„Sie rief ihm nach, wieso alle soviel Angst davor hätten, sich zu erinnern.
Er blieb stehen.
‚Vielleicht haben wir mehr Angst vor dem, woran andere sich erinnern können?‘“ (Seite 550).
Die Unsichtbaren ist ein wuchtiger Roman, brachial wie die Stürme, die über die Insel hinwegfegen, so karg und so intensiv in der Sprache wie das Leben auf Barrøy. Jeder einzelne Satz in diesem Roman ist ein Meisterwerk, eine Geschichte für sich. Jedes Wort ist wohlgesetzt und wohl durchdacht, keines ist zu viel und keines zu wenig. Hier sei den Übersetzern, Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann, ein großes Lob ausgesprochen, nicht zuletzt für die geschickte Übersetzung der Dialekte.
Der Roman führt einen Menschenschlag und eine Geschichte vor Augen, die man nicht kennt. Das harte Leben auf einer kleinen Insel im Nordmeer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – selbst 1944 gibt es auf Barrøy keinen Strom – wird in diesem Buch erfahrbar, erlebbar. Der Stil Roy Jacobsens ergreift, ohne dass er Partei ergreift, er verurteilt nicht.
Ein unglaubliches Buch, eine unbedingte Leseempfehlung.
Eines allerdings hat mir gefehlt und das ist die Information, dass die drei Teile des Romans jeder für sich bereits vor Jahren erschienen waren – auch auf Deutsch. Der einzige Hinweis, dem man das entnehmen könnte, sind die Titel und Erscheinungsdaten der Originalfassungen. Das empfinde ich als erhebliches Manko, wenn nicht sogar als Irreführung. Das schmälert jedoch den Lesegenuss natürlich in keinem Maß.
Roy Jacobsen: Die Unsichtbaren.
C.H. Beck, Juli 2019.
613 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.