Kamloops und Cranbrook in British Columbia, Marieval in Saskatchewan – Orte in Kanada, die in jüngster Zeit in die internationalen Schlagzeilen gekommen sind. Hier wurden die Überreste Hunderter Kinderleichen gefunden, alle in der Nähe von ehemaligen Schulen und Internaten für Kinder indigener Ureinwohner.
„Residential Schools waren von religiösen Denominationen geleitete und von der Regierung lizenzierte Internate für indigene Kinder. Seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert […] wurde hier den Kindern oft Hunderte von Kilometern von ihren Familien entfernt die Verbindung zu ihrer Kultur und Sprache ausgetrieben, vielfach mit Gewalt. […] Die weitverbreitete sexuelle und psychische Gewalt zerstörte nur allzu oft ihre Bindungs- und Vertrauensfähigkeit.“ (Zitat aus dem Nachwort von Katja Sarkowsky)
Ich-Erzähler Saul Indian Horse stammt aus dem Fish-Clan der nördlichen Ojibwe. Als Kind zieht er mit seiner Familie noch durch die Wildnis, erlernt die traditionelle Lebensweise der Ojibwe, verborgen vor den Weißen, immer auf der Hut vor einem finsteren Wesen, das „Schule“ heißt und schon viele Indianerkinder verschlungen hat. Nach dem Tod seiner Großmutter im Winter 1961 wird der achtjährige Saul aufgegriffen und in die St. Jerome’s Residential School gebracht. Er zieht sich vor dem Grauen in sich selbst zurück, wird zur unauffälligen Randfigur, um zu überleben. Distanziert schildert er, was den Kindern, von denen viele zuvor mit ihren Familien nomadisch lebten und wenig Berührung mit der „Zivilisation“ hatten, in St. Jerome’s widerfährt: Seelische und körperliche Gewalt, Missbrauch, Tod durch Krankheiten, Suizide, schon von Sechsjährigen. Die Toten werden auf dem „Feld der Indianer“ in langen Reihen flacher Gräber verscharrt.
Mit Pater Leboutilier kommt Licht in den dunklen Alltag von St. Jerome’s. Er setzt durch, dass eine Eisfläche für Hockey angelegt werden darf. Als Saul die älteren Jungen zum ersten Mal auf dem Eis unter blassblauem Himmel spielen sieht, geschieht etwas Magisches: Saul kann den Rhythmus des fremden Spiels von selbst sehen und begreifen, das Muster, die unsichtbaren Linien, die Absichten der Spieler. Er ist ein Naturtalent. Zuerst trainiert er heimlich mit gefrorenen Pferdeäpfeln als Puck, bis er alt genug ist, um mitzuspielen. Später wird er der beste Spieler des Schulteams. Mit dem Eishockey öffnet sich für Saul der Weg fort von St. Jerome’s, zunächst, indem er vom Eis träumt, von den Spielen, vom Zischen des Pucks, von den Schwüngen der Kufen, und schließlich ganz real. Pater Leboutilier sorgt dafür, dass er in einer Ojibwe-Pflegefamilie unterkommt und bei „The Moose“ spielen darf. Das Turnierteam „The Moose“ wird von Pflegevater Fred Kelly trainiert und spielt gegen andere Reservatsmannschaften. Bei den Kellys findet Saul ein Zuhause, einen älteren Bruder und große Begeisterung für das Hockey. Er macht sich einen Namen als exzellenter Spieler, wird für das Aufbauteam der Toronto Maple Leafs gescoutet und schafft es schließlich als einer der ersten Indigenen in die NHL. Doch er ist ein Außenseiter. „Die Presse ließ mich nicht in Ruhe. Wenn ich jemanden rammte, war es nicht bloß ein Bodycheck; ich war auf dem Kriegspfad. Wenn ich allein aufs gegnerische Tor zuraste, […] war es ein Überfall. Wenn ich […] versehentlich den Stock zu hoch hatte, jagte ich Skalps.“ (Zitat Kap. 38)
Saul verliert die Freude am Spiel und wirft hin. Er stürzt ab, wird Alkoholiker und landet in einem Therapiezentrum auf Entzug. Dort lernen wir ihn am Anfang der Rahmenhandlung kennen. Er soll seine Geschichte erzählen. Doch dafür muss er sich ihr stellen – und wir auch.
In diesem Buch wird das Eishockeyspiel lebendig. Richard Wagamese beschreibt detailliert die Bewegungsabläufe, die Schnelligkeit, den Zauber, das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Umso tragischer, dass Saul es nicht schafft, in der Profiliga anzukommen. Dennoch gelingt Wagamese ein hoffnungsvolles Ende ohne Kitsch.
„Der gefrorene Himmel“ ist ein tiefgründiges, sehr persönliches Buch mit autobiografischen Bezügen; die Eltern des Autors waren in eine Residential School gezwungen worden. Und es ist ein wichtiges Buch in einer Zeit, in der die Wahrheit aufgearbeitet werden muss.
„Ich bin froh, dass die Kinder ans Licht kommen. Ihre Geister sind nun wieder frei und wieder bei uns. Ich fühle mich umgeben von ihnen. Dass sie befreit wurden, bedeutet Freiheit auch für ihre Familien.“ (Chief Dominique Rankin, in Die ZEIT 27/2021 S. 60)
Die letzte Residential School in Kanada schloss 1996.
Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel.
Aus dem Englischen übersetzt von Ingo Herzke.
Karl Blessing Verlag, März 2021.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.
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