Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830 – 1910

In Corona-Zeiten beschäftigt man sich – und das ist sicher sinnvoll – mit der Geschichte von Epidemien. Mehrere Veröffentlichungen und Wiederveröffentlichungen zur Spanischen Grippe vor gut hundert Jahren hat es hier gegeben – und wir erkennen, teilweise mit Schrecken, die Parallelen, Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede zur heutigen weltweiten Pandemie.

Mit „Tod in Hamburg“ – der Titel klingt fast wie ein Krimi – bringt nun der Pantheon-Verlag ein gewichtiges Paperback in die Buchläden, das sich der Geschichte von „Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren“ zwischen 1830 und 1910 widmet.

Diese umfangreiche Studie von über 900 Seiten stammt eigentlich aus dem Jahr 1987, es handelt sich um eine Wieder-Veröffentlichung; der Verfasser hat lediglich ein neues, aktuelles Vorwort beigesteuert. Richard J. Evans ist unter den Historikern eine feste Größe. Geboren 1947, waren vor allem die Veröffentlichungen zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Feder des Cambridge-Professors bahnbrechend. Sein Werk „Das europäische Jahrhundert. Ein Kontinent im Umbruch 1815 – 1914“ ist Meilenstein und Standardwerk in einem.

Im Gegensatz zu der damals sehr teuren Ausgabe ist Evans‘ große Hamburg-Studie nun in einem preiswerten und doch wertigen Paperback erschwinglich. 928 Seiten, dazu Karten, Diagramme, Statistiken und zahlreiche Fotografien lassen die Zeit wiederaufleben. An jeder Stelle spürt der Leser, dass Evans seinen Stoff vollkommen überblickt und mit souveräner Quellensicherheit zu Werke geht.

Das Cholera-Desaster von 1892 – darauf verweist er auch in seinem aktuellen Vorwort – gibt auch ein Lehrstück für die heutige Zeit. Fast 9000 Menschen starben damals am Bazillus, das über die Ausscheidungen eines kranken russischen Auswanderers in die Hafenstadt mit damals etwa 600.000 Einwohnern gekommen war.

Anders als das Coronavirus, das sich über Aerosole verbreitet, nahm die Cholera den Weg über das Trinkwasser. Zur Verbreitung trugen vor allem katastrophale Wohn- und Hygieneverhältnisse vor allem im armen Gängeviertel bei, einem Labyrinth von lichtlosen Gassen, in denen Sickergruben, Latrinen und Nachttöpfe anstelle von Wasserklosetts verbreitet waren. 70 Prozent der Menschen in der aus allen Nähten platzenden Stadt lebten damals unter der Armutsgrenze.

Die Symptome der Seuche waren schrecklich. In Sturzbächen schieden die Erkrankten Stuhl aus, erbrachen sich und verloren so in kürzester Zeit bis zu einem Viertel ihrer Körperflüssigkeit. Die Haut verfärbte sich, wurde schrumpelig, heftige Krämpfe schüttelten den Körper, dann folgte der Tod. Die Cholera war wie ein dunkler, böser Geist aus dem Mittelalter in eine Metropole der industrialisierten Gesellschaft gehuscht.

Erst wenige Jahre zuvor hatte Robert Koch das Bakterium entdeckt, ein Mittel aber gab es noch nicht dagegen. Koch wusste lediglich, was es zu seiner Verbreitung brauchte: ekelhafte hygienische Mangelzustände, dazu Enge, Hitze und Armut. Und davon war Hamburg übervoll.

Außerdem wurde Hamburg von einem liberalen Senat regiert – in ständiger Opposition zum preußisch-dominierten Reich. Diese Polit-Amateure waren konservative Geister und wenig überzeugt von den neuen medizinischen Erkenntnissen. Sie hingen eher der Miasmentheorie an, nach der aus dem Boden aufsteigende unsichtbare Dämpfe (Miasmen) unter bestimmten klimatischen Verhältnissen Krankheiten hervorriefen. Ihre Unbelehrbarkeit hatte unheilvolle Folgen. Während der Senat also auf bessere Winde wartete, rumpelten immer mehr Krankenkutschen über das Pflaster, aus denen die Exkremente der Kranken auf die Straße liefen.

Eine Aufklärung der Bevölkerung gab es nicht, so dass sich die Menschen ahnungslos im Cholerawasser wuschen und auch ihr Obst – es war Pflaumenzeit – mit der verseuchten Brühe „reinigten“. Als Robert Koch endlich in die Stadt kam und das Gängeviertel besichtigte, diese „Pesthöhlen und Brutstätten“, war er fassungslos. In den Elendsvierteln gab es Gemeinschaftstoiletten für 50 und mehr Personen.

Die Stadtväter hatten sich – aus reinem Profitdenken, schließlich lebte die Stadt vom Handel und vom Hafen – wochenlang gegen eine Absperrung gewehrt. Nun mussten sie die Stadttore schließen, die Erkrankten wurden unter Quarantäne gestellt. Tankwagen verteilten frisches Quellwasser auf den Straßen, Desinfektionsstaffeln wurden aufgestellt, Häuser und Straßen wurden desinfiziert – die Stadt war komplett lahmgelegt.

Wie auch heute – und das ist eine Parallele zur Gegenwart, die dem Leser von heute durchaus unangenehm aufstoßen sollte – waren Verschwörungstheoretiker schnell dabei, wirre Erklärungen zu produzieren und Schuldige auszumachen. Bei der Reichstagswahl 1893 konnten die antisemitischen Parteien ihren Stimmanteil in vielen Hamburger Stadtteilen von fast null auf über zehn Prozent erhöhen.

„Ob wir je aus den Fehlern der Geschichte lernen?“, fragt Richard Evans zu Beginn seines Vorworts zur Neuausgabe und verweist gerade im Zusammenhang der Verschwörungstheorien auf heutige Populisten wie zum Beispiel Donald Trump. „Irrationale Gedanken sind im 21. Jahrhundert deutlich weiter verbreitet und behindern die von Regierungen zum Kampf gegen die Pandemie ergriffenen Maßnahmen. Geschichte bedeutet nicht zwangsläufig Fortschritt. […] Im Jahre 1892 war die Welt eine andere als heute, die Menschen reagierten anders als wir auf Krisen und Katastrophen, doch waren ihre Reaktionen weder weniger rational noch emotionaler als die der heutigen Bevölkerung.“

Was uns bei der Lektüre dieses wirklich großen Buches auffällt, ist darüber hinaus noch eine weitere Parallele. 1892 war die Kluft zwischen Arm und Reich in Hamburg ungeheuer – in den reichen Villenvierteln waren kaum Tote zu beklagen, während sich die Toten in den Elendsvierteln zu stapeln schienen. Und auch bei Covid-19 verhält es sich durchaus ähnlich. Was die Historiker einst schreiben werden, wenn diese weltweite Pandemie erforscht sein wird?

Die große Untersuchung von Richard J. Evans über den Mikrokosmos Hamburg ist ein bedeutendes Werk der Sozialgeschichte – und darüber hinaus. Es ist vor allem auch ein extrem gut lesbares Buch, das den Leser packt und nicht mehr loslässt, was auch an seinem Detailreichtum liegt, in dem es sich aber niemals verliert.

Dass ein solches Buch nun als erschwingliches Paperback einem breiteren Leserpublikum zur Verfügung steht, lässt hoffen, dass uns der Verlag auch in Zukunft weiterhin große Titel zur Geschichte in gleicher Weise präsentieren wird.

Richard J. Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910.
Aus dem Englischen übersetzt von Karl A. Klewer.
Pantheon Verlag, Februar 2022.
928 Seiten, Taschenbuch, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.

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