Es gibt viele Geschichten, die von einem Rollenwechsel berichten: Frauen, die sich als Männer verkleiden, Männer als Frauen. Bei dem Beduinenmädchen Sarab beginnt der Rollenwechsel bereits bei der Geburt. Denn ihre Mutter behauptet, sie habe einen zweiten Sohn geboren. Kurz darauf stirbt ihr Mann, ein alter Scheich, und sie muss mit ihren zwei Söhnen ohne männlichen Schutz überleben.
»… Sie verbrachten ihre Kindheit in einem eingebildeten Kriegslager, in dem die Mutter sie zu Kämpfern gegen den Satan ausbildete. Ihr Glaubenskrieg wurde für den Stamm zu einer Quelle der Offenbarung. (S. 144)
Als ihre Mutter stirbt, folgt ihr Bruder Saifallah dem Ruf des Predigers Mudschan nach Medina. Und Sarab folgt ihm wie gewohnt als sein Schatten in Männerkleidern. Während Saifallah von Mudschan begeistert ist, fühlt sich Sarab von Mudschans Schwager, dem auserkorenen Mahdi, angezogen. Die Geschwister befolgen nicht nur die neuen Doktrin, sie ziehen mit Mudschan und dem Mahdi in den Krieg nach Mekka, um die große Moschee in ihre Gewalt zu bringen. Danach seien sie alle erlöst, behauptet Mudschan.
Sarab, die schon als Sechsjährige kein Tier töten konnte, trägt nun eine Waffe, um Ungläubige zu erschießen. Nach ihrem erfolgreichen Überfall und der Besetzung des heiligen Bezirks beginnt der eigentliche Krieg, der zu einem Massaker mutiert. Als nach drei Wochen der Mahdi und Mudschan besiegt und die meisten ihrer Kämpfer vernichtet sind, fällt Sarab in den Katakomben ein fremder Soldat vor die Füße. Ein herabstürzendes Deckenelement macht ihr die Gefangennahme leicht. Durch einen Abwasserkanal gelingt ihnen die Flucht.
Was passiert mit einer jungen Frau, die in ihrem Leben noch nie ihre Weiblichkeit gefühlt hat?
Ihr Bruder und ihre Familie sind tot, und eigentlich will sie ihnen folgen. Doch der fremde Soldat in ihrer Obhut bringt ihre Pläne durcheinander. Sie kann ihn weder mit eigener Hand töten, was eigentlich ihre heilige Pflicht wäre, noch kann sie ihn ihren Glaubenskriegern übergeben.
Raja Alem wurde 1970 in Mekka geboren und ist heute eine renommierte Autorin, die für ihre Romane Preise erhält. In ihrem Roman Sarab beschreibt sie sehr glaubwürdig die Geburtsstunde der al-Kaida und wie Menschen für einen Glaubenskrieg manipuliert werden. Aber auch andere werden für den Krieg gedrillt. Am Beispiel des französischen Elitesoldaten Raphael zieht die Autorin geschickt einen weiten Kreis und stellt damit das Töten in Frage.
Sarab kann im Vergleich zu Raphael ihr Schicksal nicht bestimmen. Sie lebt in einem totalitären System. Vätern wird unter anderem erlaubt, sich von der beschämenden Anwesenheit einer Tochter zu befreien und sie zu töten. Sarabs Mutter durfte leben, weil ihr angesehener Vater bereits viele Söhne hatte. Aus einer Laune heraus nannte er sie »Tafla« (Speichelladung). Dass Sarab nur als verkleideter Junge eine Existenz haben darf, wird unter dem Gesichtspunkt Hass und Verachtung gegenüber Frauen nachvollziehbar.
Was passiert mit Sarab, die nach Paris flieht und durch Raphael eine andere Lebensform kennenlernt? Beide sind von den miterlebten Massakern traumatisiert, tragen an ihrer Schuld genauso schwer wie an den aufkeimenden Gefühlen füreinander.
Für Sarab geht ihr persönlicher Krieg gegen Unfreiheit, Hass und Gewalt in eine neue Runde.
Raja Alems kluger Roman zeigt die Mechanismen der Macht, die vor keiner Form der Gewalt zurückschrecken. Das System der Entmenschlichung kann niemanden unberührt lassen. Man hofft, man bebt, und dann, dann kommt die Überraschung, die nicht überraschen kann, aber trotzdem die Seele berührt.
Raja Alem: Sarab.
Unionsverlag, April 2018.
320 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.
Dieses Buch steht ganz oben auf meiner Wunschliste! Deine Rezension hat mir jetzt noch mehr Lust auf das Buch gemacht. Danke für die Erinnerung. Ich lese sehr gerne Bücher aus dem arabischen Raum.
GlG, monerl