„Das Glück, Antonio. Hörst du nicht, dass es dich ruft?“ (S. 316)
Zunächst sieht Antonios Leben im Waisenhaus alles andere als glücklich aus.
Und wäre ihm in seiner Kindheit der Fotograf Alessandro nicht begegnet, wäre er vermutlich im Waisenhaus vor die Hunde gegangen. Wer wie er ganz unten in der Hierarchie der Kinder steht, lernt, sich unsichtbar zu machen. Und wer unsichtbar ist, wird weniger drangsaliert. Doch eines Tages steht wieder ein Fremder vor den aufgereihten Waisenkindern, um sich eine Arbeitskraft auszusuchen. Ausgerechnet Antonio will der Fotograf Alessandro als zukünftigen Assistenten mitnehmen, den unscheinbaren Jungen mit einem fast blinden Auge, das er unter einer Augenklappe verbirgt.
In der Zeit von 1867 bis 1915 betrachtet Antonio die gesellschaftlichen Ereignisse in Genua und in Mailand durch den Sucher und erfährt dabei, dass auch jenseits der Linse alles für ihn möglich ist. Er muss sich nur trauen und die Initiative ergreifen.
Und es dauert nahezu ebenso lange, bis er begreift, dass seine besondere Gabe nicht nur Fluch, sondern auch ein Segen sein kann.
Raffaella Romagnolo schreibt in ihrem Nachwort, nach Vollendung ihres Romanes Bella Ciao wollte sie noch eine Weile bei der Familie des Domenico Leone verweilen und schuf inhaltlich eine Brücke zu dem Fotografen Alessandro Pavia, zu dem sie eine tiefe Bindung verspürte. Es lag also auf der Hand, die Geschichte der Fotografie für die Verbildlichung der politischen Veränderungen zu nutzen. Während Alessandro den Jungen Antonio aus dem Waisenhaus rettet, ihn ausbildet und unterrichtet, werden beide Zeitzeugen. Die Auswirkungen von kriegerischen Auseinandersetzungen bringen die arbeitenden Menschen mal in Armut und die Findigen unter ihnen zu einem Vermögen.
Der gesellschaftliche Aufstieg und Fall wird auch beim Fotografen Alessandro und seinen Werten deutlich, der die Kunst der Belichtung und der Entwicklung der Platten pflegt. Sein Können wird durch den Fortschritt immer weniger gefragt, als jeder Laie mit einer handlichen Kamera das Objekt seiner Wünsche selber fotografieren kann. Antonio hält zwar auch an den Werten seines Lehrmeisters fest, sieht jedoch auch die Chancen, die technische Fortschritte mit sich bringen. Er betrachtet seine Arbeit als ein Festhalten der Zeit und der bildlichen Dokumentation. Antonio weiß, wie wichtig die Belichtungszeit für die Qualität eines Fotos ist. Es ist viel mehr als Silbernitrat und albumiertes Papier.
Kunstvoll verbindet die Autorin die Lebensläufe ihrer Charaktere und fokussiert auch die weibliche Perspektive, um eine runde Geschichte zu erzählen. Antonio wird ein Menschenfreund mit einem modernen Verständnis für die schwierige Lage der Frauen, besonders der der Gefallenen.
Maja Pflug übersetzte diesen wunderschön erzählten Roman aus dem Italienischen.
Raffaella Romagnolo: Das Flirren der Dinge.
Aus dem Italienischen übersetzt von Maja Pflug.
Diogenes, April 2022.
368 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.