Pierre Lemaitre: Spiegel unseres Schmerzes

Bewegend, hochspannend, mit einer starken Heldin: Autor Pierre Lemaitre widmet sich in diesem Roman einer der finstersten Epochen seines Landes. 1940 kann die französische Armee den Angriffen der deutschen Wehrmacht nicht mehr standhalten, die Nationalsozialisten fallen in Frankreich ein und erobern Paris. Dies löst unendliches Leid aus, sowohl an der Front entlang der Maginot-Linie als auch bei der Zivilbevölkerung, die in endlosen Flüchtlingsströmen gen Süden aufbricht. Hungernd, entkräftet, ohne Perspektive außer dem täglichen Überlebenskampf, schafft es nicht jeder bis ans Ziel. Verwundete werden zurückgelassen, Eltern von ihren Kindern getrennt. Inmitten des Durcheinanders zeigen Menschen ihr wahres Gesicht. Und so blitzt aller Tragik zum Trotz immer wieder Mitgefühl und Menschlichkeit auf.

In diesen Kriegswirren kreuzen sich die Wege der Protagonisten, jeder für sich von diversen Traumata gezeichnet. Da ist die attraktive Louise Belmont, die weder ihre Kindheit im Schatten der depressiven Mutter, noch ihre eigene Unfruchtbarkeit überwunden hat. Noch dazu ist sie einem finsteren Familiengeheimnis auf der Spur. Da ist Monsieur Jules, Besitzer eines Cafés, in dem die Lehrerin Louise an Samstagen arbeitet. Er hat seine große Liebe nie bekommen können. Da ist der Soldat Gabriel, einst friedliebender Mathematiklehrer, der von den harten Umständen an der Front überfordert ist. Auch von seinem Kameraden Raoul Landrade, der in illegale Schmuggelgeschäfte verstrickt ist, ihn erpresst und drangsaliert. Da ist der Mobilgardist Fernand, der zwischen Pflicht und Gefühl wählen muss. Er erhält den Befehl einen Gefangenentransport zu eskortieren, muss aber gleichzeitig seine kranke Frau Alice in Sicherheit bringen.

Sprachlich lässt Prix Goncourt-Preisträger diese Ära so lebendig aufleben, dass wir den Hunger der Flüchtlinge in den eigenen Eingeweiden spüren können. Wir erleben ihre Kraftlosigkeit, hören die Sirenen heulen und die Bomben niederprasseln, können Schmutz, Kälte und Angst am eigenen Leib nachempfinden. Umso erstaunlicher, dass es der große Romancier schafft, trotz des tragischen Settings köstlichen Humor einzubringen. Dieses Kunststück gelingt in der Figur des Désiré Migault, einem Hochstapler, der seine Identität schneller wechselt, als andere Leute ihren Anzug. Mit (Größen-) Wahnsinn, Witz und Schlagfertigkeit geht er in jeder seiner Rollen auf. Mal als charismatischer Anwalt, mal als beschwichtigender Pressesprecher der Regierung, mal als Pastor, der seine Schäfchen mit selbst erdichteten Bibelstellen und Glaubenssätzen in Atem hält.

Dieser Roman ist der Abschluss von Pierre Lemaitres Romantrilogie rund um die beiden großen Weltkriege. Sein Erstling „Wir sehen uns dort oben“ behandelt den Ersten Weltkrieg, „Die Farben des Feuers“ setzt Ende der 20iger Jahre zu Beginn der Weltwirtschaftskrise ein und beschreibt die Vorboten des Faschismus. Im dritten Roman fallen die Nationalsozialisten in Frankreich ein. Für den Genuss dieser Lektüre ist es jedoch nicht notwendig, die literarischen Vorgänger zu kennen. Der Roman steht für sich selbst, einzelne Personen erscheinen höchstens als kleine „Side-Kicks“.

Lemaitres Trilogie steht unter dem Motto „Die Kinder der Katastrophe“. Insbesondere das Beschwichtigen der Regierung, die lange Zeit ihre Niederlage nicht wahrhaben wollte, soll dem Autor zufolge bis zum heutigen Tag auf das politische Geschehen nachwirken.

Wie auch schon in „Die Farben des Feuers“ liegt Lemaitres Augenmerk auch hier vor allem auf der weiblichen Hauptdarstellerin. Diese nimmt nicht nur ihr eigenes Leben in die Hand, sondern springt für das Leben anderer ein. Leicht macht es ihr der Autor nicht. In Interviews gibt er zu, gerne gemein zu seinen Figuren zu sein. Doch je größer der Fall, desto ergreifender der Aufstieg. Louises Weg zur Heldin ist außergewöhnlich. Lemaitres Helden sind Helden wider Willen, Helden auf Umwegen, Helden im zweiten Anlauf. Das macht sie ambivalent, menschlich, aber auch sympathisch.

Fazit: Große Gefühle, große Unterhaltung! Ein sprachlich brillant erzählter Roman über den Einmarsch der Deutschen in Frankreich während des Zweiten Weltkrieges. Lemaitre macht Historie zur emotionalen Achterbahnfahrt, anhand von fein gezeichneten Charakteren, mit denen wir Seite um Seite bangen, weinen, lachen. Nicht zuletzt ist sein Roman ein Plädoyer für Humanität und Zusammenhalt. Dies macht seine Prosa aktueller denn je.

Pierre Lemaitre: Spiegel unseres Schmerzes.
Klett-Cotta, Oktober 2020.
480 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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