Nicole Trope: Das Finkenmädchen

Birdy und Rose erzählen aus ihrem Leben. Früher kannten sie sich, waren Nachbarinnen und haben sich dann aus den Augen verloren. Damals war Birdy ein Kind und Rose schon erwachsen. Jetzt berühren sich ihre Geschichten wieder: Heute sind sie sich – wie vor 25 Jahren – ganz nah.

Birdy ist anders als andere. Langsamer. Sie kann sich nicht viel merken. In ihrem Gehirn ist eine Tür offen, durch die Vieles, was dort ankommt gleich wieder entwischt. Sie muss alles ganz oft hören, bis es sich darin festsetzt. Nur ein paar wirklich schlimme Dinge sind auf Anhieb dringeblieben und wollen nicht verschwinden. Diese Dinge hängen mit den früheren Nachbarn zusammen. Deshalb erinnert sie sich auch so gut an Rose.

Rose ist im ganzen Land bekannt. Ihr Mann Simon war ein Fernsehstar und sie war oft mit ihm gemeinsam in den Zeitungen. In über 40 Ehejahren hat sie immer zu ihm gehalten, hat alles für ihn getan, hat sich ihm ganz und gar unterworfen. Ihr Lebenszweck war, ihn glücklich und zufrieden zu machen. Dann kommen Gerüchte auf und sie beginnt zu zweifeln: Hat Simon Mädchen belästigt oder gar missbraucht? Kennt sie diesen Mann überhaupt? Hat sie jemals hinter seine attraktive, charmante Fassade geblickt?

Jetzt ist Simon tot und Rose wurde verurteilt. Im Gefängnis kreuzen sich die Wege von Birdy und Rose wieder. Die alte Wut, die in Birdy blubbert richtet sich gegen Rose. Sie hat eine Strategie erdacht, mit deren Hilfe sie die Wut ein für alle Mal auslöschen möchte und tut alles dafür, sie umzusetzen.

„Das Finkenmädchen“ ist emotional schwere Kost, vor allem für Frauen, die Erfahrungen mit sexuellen Belästigungen oder Übergriffen haben (und das sind viel zu viele). Dennoch ist es absolut lesenswert. Die australische Autorin Nicole Trope dringt tief in die Persönlichkeiten ihrer Protagonistinnen ein, legt ihr Seelenleben und ihre Verletzungen offen. Dabei findet sie für die psychischen Probleme eindrucksvolle Bilder. Da ist vor allem Birdy, die manchmal probiert, ihre Wut mit Essen zu ersticken und sich in einem großen Körper stärker fühlt, die manchmal fast nichts isst, um so leicht zu bleiben, dass sie wie ein Vogel wegfliegen kann, wenn es notwendig wird und die auch die Kombination aus beidem entdeckt hat: Essen und Erbrechen. Birdy sieht viele Dinge anders und öffnet den Leserinnen und Lesern gerade dadurch die Augen. Aber auch von Rose und vielen Nebenfiguren zeichnet Nicole Trope ein differenziertes Bild.

Die Fragen, die in diesem Roman aufgeworfen werden, sind eigentlich nicht zu beantworten, aber sie bewegen dazu, über sich und andere nachzudenken. So fragt sich Birdy, was aus ihr geworden wäre, wenn sie Simon nicht begegnet wäre. Wäre sie ein anderer Mensch?

Rose reflektiert ihr Abhängigkeitsverhältnis, die Aufgabe ihrer eigenen Persönlichkeit und geht hart mit sich ins Gericht.

Am Ende bleibt Birdys Erkenntnis darüber, was wichtig ist im Leben: Die anderen wirklich zu sehen, ihnen wirklich zuzuhören, mutig zu sein und ihnen beizustehen. Und da kann sie, der es schwerfällt zu lernen und sich Sachen zu merken, manchen noch etwas beibringen, denn sie schützt ihre kleine Tochter Isabel ganzer Kraft: „Mutig sein war besser, als innerhalb der Linien auszumalen oder einen Kreis zu zeichnen,“ sagt sie einmal.

„Das Finkenmädchen“ ist ein Roman, der auf spannende Art und Weise sehr gut lesbar das wichtige Thema sexuelle Gewalt aufgreift. Einfühlsam, mit klugen Gedanken und unkonventionellen Sichtweisen regt Nicole Trope dazu an, das eigene Verhalten und die persönlichen Einstellungen immer wieder zu hinterfragen.

Ein sehr empfehlenswertes Buch, nicht nur für Frauen.

Nicole Trope: Das Finkenmädchen.
Bastei Lübbe, Mai 2018.
352 Seiten, Taschenbuch, 11,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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