Der deutsche Titel des schmalen Büchleins klingt ein wenig gefühlsbetont, er kann in die Irre führen. Denn es geht nicht um eine nette, kleine Schule, in der große Hoffnungen Wirklichkeit werden. Der Originaltitel „Manikanetish, Petite Margerite“ indessen verweist auf den Namen einer Schule im Indianerreservat Uashat, rund neunhundert Kilometer nordöstlich von Montreal, wo der Sankt-Lorenz-Strom in den Atlantik mündet. Die Schule wurde Manikanetish genannt, kleine Marguerite, zum Gedenken an eine zierliche Frau dieses Namens, die Dutzende elternlose und schwierige Kinder aufgezogen hat.
Als Ich-Erzählerin Yammie ein kleines Mädchen war, zog die Mutter mit ihr fort nach Québec, weg vom Reservat der Innu, in ein besseres Leben. In Québec war Yammie eine Fremde, dunkelhäutig unter den Weißen. Sie hat studiert und ist Lehrerin geworden. Nach dem Studium will sie zurück nach Uashat. Sie möchte ihren Schülerinnen und Schülern nicht nur Französisch beibringen, sondern auch, wie man sich selbst findet. „Ich würde den Schülern mit fester Stimme von meinem Studium erzählen und davon, warum ich Lehrerin geworden war. […] Ich würde ihnen nicht erzählen, was ich alles aufgegeben hatte. […] Und ich würde nicht auf Innu zu ihnen sprechen. Weil ich Schwierigkeiten mit der Grammatik hatte und den Akzent einer Weißen.“ (Zitat Kapitel „Das Unbekannte“)
Yammie ist nicht klar, dass sie sich selbst auch noch nicht gefunden hat. Die Verbindung zum Reservat wurde damals gekappt, nun ist es schwer, neue Verbindungen zu finden. Wieder ist sie eine Fremde, diesmal im eigenen Volk.
Mit nüchternen Worten erzählt Yammie, wie es ihr gelingt, nach und nach das Vertrauen der Schüler zu gewinnen. In kurzen Kapiteln scheinen die Alltagsprobleme im Indianerreservat auf: Rassismus, Klischees, Krankheit, Perspektivlosigkeit, hohe Suizidraten bei Jugendlichen. Doch die Jungen und Mädchen der Klasse sind stark. Bei Aufenthalten in der Natur lernen sie, Kraft zu schöpfen und ihre Sorgen hinter sich zu lassen; die Gemeinschaft kann heilend wirken. Ein Theaterstück, das sie mit Yammie einstudieren, lässt sie über sich hinauswachsen.
In dem Buch hat die Autorin, geboren 1987 in Uashat, ihre eigene Biografie verarbeitet. Wie Yammie hat Naomi Fontaine ihre Kindheit und Jugend außerhalb des Reservats verbracht und kehrte nach dem Lehramtsstudium zurück. Sie ist eine der bekanntesten indigenen frankokanadischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. „Die kleine Schule der großen Hoffnung“ ist ihr zweiter Roman, er stand 2018 auf der Shortlist des renommiertesten kanadischen Literaturpreises, des Governor General’s Award.
Naomi Fontaine erzählt eine Geschichte von Rückkehr und Wiederfinden, die schon viele Male erzählt wurde, aber der Blick auf die Lebenswirklichkeit der Innu macht sie berührend und besonders.
Naomi Fontaine: Die kleine Schule der großen Hoffnung.
Aus dem Englischen übersetzt von Sonja Finck.
C. Bertelsmann, Oktober 2021.
144 Seiten, Gebundene Ausgabe, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.