Monica Ali: Brick Lane

Erstmals 2003 erschienen, ist Monica Alis Roman – jetzt in der Taschenbuchversion erhältlich – heute aktueller denn je. Die Probleme, mit denen sich Migranten in der neuen Heimat auseinandersetzen, werden in diesem Roman ebenso beleuchtet, wie die damit verbundene Selbstfindung. Erstaunlich: Monica Ali gelingt dieses eigentlich ernste Thema mit erstaunlich viel Situationskomik und Wortwitz! Welche Regeln sollen und können in der neuen Heimat übernommen werden? Was tun mit „verwestlichten Kindern“, die hier geboren sind und die elterliche Kultur ablehnen? Was, wenn der soziale Aufstieg misslingt? Wie soll der Ehemann reagieren, wenn die Frau ihre Rolle in der Gesellschaft plötzlich neu definiert – und FREIWILLIG arbeiten gehen will (in der Heimat ein Zeichen, dass der Familienvater wirtschaftlich versagt hat)? Aber auch die Vorbehalte, Ressentiments und unsichtbaren Barrieren, die zwischen Migranten und Einheimischen, zwischen Jugend und Alter, zwischen Mann und Frau gezogen werden, beschreibt Ali meisterhaft in dem kleinen Mikrokosmos des bengalischen Viertels rund um die Brick Lane in London. Die Vielschichtigkeit der Charaktere verleiht dem Plot trotz der Beengtheit des Settings seine Würze. Eine gläubige Muslima und Mutter, die mit einem wesentlich jüngeren Revoluzzer fremdgeht? In Monica Alis Roman kein Widerspruch! Die Autorin hat ein Händchen für die kleinen, liebenswerten Schrullen ihrer Protagonisten. Zum Beispiel, indem weibliche Auflehnung darin besteht, dem Ehemann bereits getragene Strümpfe im Sockenfach als Frischwäsche unterzujubeln. Dumm nur, dass dieser es gar nicht bemerkt! Von spitzzüngigen Dialogen unter Frauen, bis hin zu Männern, die im großen Maßstab scheitern, besticht Alis Plot trotz manch ernster Hintergrundthematik durch humorvolle Leichtigkeit.

Nazneen ist neunzehn, als sie mit dem wesentlich älteren Chanu verheiratet wird und von Bangladesch nach London zieht. Die gläubige Muslima, die kein Wort Englisch spricht, ist in der ersten Zeit komplett ans Haus gebunden und damit beschäftigt, ihre neue Rolle als Ehefrau und Mutter zu finden. Auch ihr Mann Chanu hat seinen Platz in England noch nicht gefunden. Er hat englische Literatur studiert, sieht sich als gebildeten Mann, der Karriere machen will. Seine bengalischen Landsleute verachtet er zum Großteil als ungebildetes Bauernvolk, doch die Engländer sind snobistisch, rassistisch und verwehren ihm den Aufstieg. Deshalb kündigt er seinen Job beim Bezirksrat, scheitert mit seiner Selbstständigkeit und endet als Taxifahrer. Nazneen freundet sich derweil mit Razia an, welche kurze Haare und Hosen trägt und nach dem Tod ihres Mannes einen recht westlichen Lebensstil pflegt. Sie lernt Englisch in der Abendschule, hat einen Job, ein eigenes Leben. Auch in Nazneen regt sich trotz all ihrer Gläubigkeit immer mehr der Wunsch, zu sich selbst zu finden. Näharbeiten, die ihr Mann vermittelt, sind ein erster Schritt. Karim, der die Kleidung bringt, ein zweiter. Völlig fasziniert von dem wesentlich jüngeren Mann, der für den Erhalt der islamischen Kultur kämpft, beginnen die beiden eine Affäre. Als sich nach den Anschlägen des 11. September die Stimmung gegen Muslime zusehends verschlechtert, beschließt Chanu, nach Bangladesch zurückzukehren. Während die westlich geprägten Töchter rebellieren, fragt sich auch Nazneen zum ersten Mal, wo eigentlich ihr Platz ist.

Die Emanzipationsgeschichte dieses Romans entwickelt sich in kleinen Schritten und vollzieht sich über 16 Jahre. Die Entwicklung von der kindlich-naiven Nazneen zur reifen Frau, die auch mal Nein sagt, ist glaubwürdig und vielschichtig erzählt. Chanu ist kein Schläger, sondern ein sanfter Ehemann. Nazneen keine Rebellin, sondern angepasst und fromm. Fast schon niedlich kommt Chanu daher, wenn er die Urkunden seiner Studienabschlüsse stolz an die Wand hängt, die sich beim näheren Betrachten allerdings als Kurse an der Volkshochschule herausstellen. Die bisweilen schrullig überzeichneten Nebenfiguren verleihen dem Plot zusätzliche Würze. Da ist die Geldverleiherin Mrs. Islam, die im Falle einer Zahlungsunfähigkeit sehr gekonnt die Karte der „alten, gebrechlichen Frau“ ausspielt. Da ist Dr. Azad, Chanus Vertrauter, dem der wirtschaftliche Aufstieg bereits gelungen ist. Doch seine aufmüpfige Tochter und die Frau im engen Minirock, kann er in der muslimischen Gemeinde nicht herzeigen. Die ungleiche Freundschaft bringt immer wieder Situationen hervor, welche mit subtilem Witz glänzen.

„Der Arzt wurde respektiert, hatte Status und Geld, all das fehlte Chanu, und er litt darunter. Aber der Arzt hatte keine Familie, keine, von der er erzählen konnte, ohne zu leiden.  Chanu hatte eine richtige Frau und Töchter, die sich benahmen. Aber dieser schlaue Mann war trotz seiner Bücher nichts Besseres als ein Rikscha-Wallah. Und so verflochten sie ihr Leben miteinander, um von der Traurigkeit des anderen zu trinken. Aus diesen speziellen Wasserlöchern zogen die beiden Männer Kraft.“ (S. 354)

Als zweite sprachliche Ebene führt die Autorin geschickt den Briefwechsel mit Nazneens Schwester Hasina ein. Die einstiege Schönheit ist mit einem Mann weggelaufen und als „gefallene“ Frau in Dhaka geendet. Erst eine Anstellung als Gouvernante bringt die Wende. Ihre in gebrochener, kindlich wirkender Sprache verfassten Briefe, demonstrieren die stoische Ruhe mit der Hasina ihr Schicksal trägt und sich trotz allem Freude im Herzen bewahrt. So stellt Ali die beiden Schicksale der Schwestern – eine in London, eine in Dhaka – einander gegenüber. Ohne zu bewerten, ohne zu beschönigen. Denn was sagt es aus, wenn laut einer wissenschaftlichen Studie der School of Economics die glücklichsten Menschen in Bangladesch leben, während England nur Platz 32 belegt?

Monica Ali, die im Alter von drei Jahren mit ihren Eltern von Bangladesch nach England zog, erhielt für ihr gelungenes Debüt den „British Book Awards Newcomer of the year“. Der Roman wurde zu den bedeutendsten englischsprachigen Werken gewählt. 19 Jahre nach seiner Ersterscheinung liest er sich so, als wäre der Plot erst gestern passiert. Menschlich, witzig, pointiert und sehr genau beobachtet, bricht Ali mit Konventionen beim Lesen und dem Hinterfragen eigener Vorurteile.

Monica Ali: Brick Lane.
Aus dem Englischen übersetzt von Anette Grube.
Klett-Cotta, März 2022.
544 Seiten, Taschenbuch, 12,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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