Als es im Dezember 1980 auf einem Flug nach Frankreich zu einem Absturz kommt, überlebt nur ein einziger Passagier: ein blauäugiger Säugling. Das Problem: An Bord waren zwei weibliche Säuglinge im etwa gleichen Alter. Um welches der Kinder handelt es sich nun? Diese Fragen können die Großeltern der beiden Mädchen klar beantworten: Es ist natürlich ihr Kind! Doch wer hat wirklich überlebt Lyle-Rose oder Emilie? Ein Gericht spricht nach monatelanger Recherche das Kind den Großeltern von Emilie zu. Doch Lyle-Rose‘ Verwandte geben nicht auf und engagieren einen Privatdetektiv. Achtzehn Jahre lang recherchiert er in dem Fall und mittlerweile ist Emilie eine erwachsene junge Frau, die noch immer ihre Identität nicht mit Sicherheit kennt.
Na, werden Sie sagen, da machen wir doch erstmal einen DNA-Test, der wird’s schon richten! Gentests im Jahre 1980, nun ja … das war zu dieser Zeit noch reine Science Fiction. Und so kommt es, dass Lylie, wie das Kind von den Medien als Zwischenlösung der beiden Namen getauft wird, bei der Familie Vitral aufwächst, während die Carvilles krampfhaft versuchen zu beweisen, dass sie im Recht sind. Die Idee könnte kaum genialer und origineller sein! Dass der Autor aber auch sicher aus weniger guten Ideen einen tollen Roman geschaffen hätte, wird beim Lesen schnell klar. Michel Bussi versteht sich darauf, Worte geschickt einzusetzen und mit ihnen zugleich Spannung und Emotion zu transportieren. Zu Beginn des Romans stellt er beispielsweise das Geschwisterpaar Emilie und Marc aus der Sicht einer völlig Fremden vor. Sie spekuliert, was sie dort vor sich hat. Ein Liebespaar oder Geschwister? Unvoreingenommen nähert man sich so zu Beginn zwei der wesentlichen Hauptfiguren. Um die Enkel-Generation, bestehend aus Marc auf der Seite der Vitrals, Malvina, der Tochter der Carvilles, und Lily, die zwischen den beiden und allen übrigen Beteiligten steht, dreht sich ein wesentlicher Teil des Geschehens. Spannenderweise sind es die Frauen der Großeltern-Generation, die sich um Auflösung des Falles bemühen und denen sich der Privatdetektiv immer wieder gegenüber sieht.
„Das Mädchen mit den blauen Augen“ ist ein geradezu großartiger Roman, ohne übermäßig schwärmen zu wollen. Die Geschichte nimmt ihre Leserinnen und Leser im Sturm ein. Ehe man es sich versieht, sitzt man mit gehetztem Blick vor dem Roman und stellt fest, dass es bereits halb vier in der Nacht ist. Aber man ist nicht müde, man muss herausfinden, wie die Geschichte ausgeht. Und Bussi versteht sich vorzüglich darauf, das bis fast zur letzten Seite offen zu lassen. Geschickt manövriert er sein Publikum durch die Handlung in der Gegenwart, die kaum mehr einen Tag umfasst, und die Aufzeichnungen des Privatdetektivs in den letzten achtzehn Jahren. Ohne dass man jemals das Gefühl hat, auf der Stelle zu treten, wird die Recherche stetig vorantrieben. Und auch in der Gegenwartshandlung bleibt Spannung nicht aus. Denn Malvina ist auf Rache aus und läuft mit einer Waffe umher, Privatdetektiv Crédule, der eigentlich einen Selbstmord geplant hatte, wird tot aufgefunden und es entstehen Zweifel, ob es sich nicht doch um einen Mord handelt. Alles perfekt aufeinander abgestimmt, zusammengemischt zu einer spannenden Handlung. Bussi gelingt es, sowohl für die Beziehungen zwischen den Personen als auch die Tragik der eigentlichen Situation die richtigen Worte zu finden. Obwohl alles harmlos beginnt, mit dem vermeintlich Selbstmord Crédules, kann man sich schon nach wenigen Seiten kaum mehr von dem Roman lösen!
Bitte mehr von diesem talentierten Autor! Michel Bussi wird sicher wieder von sich hören lassen. Bis dahin sollte sein Roman für tolle, spannende Lesestunden sorgen!
Michel Bussi: Das Mädchen mit den blauen Augen.
Rütten & Loening, Februar 2014.
416 Seiten, Taschenbuch, 14,99 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.