Marlene erlebt das deutsche Kaiserreich, lernt den Ersten Weltkrieg fürchten und im Anschluss eine neue politische Ordnung, die Demokratie, kennen. Unterschiedliche Parteien kämpfen um Mehrheiten, die durch das Frauenwahlrecht eine neue Dynamik erfährt. Marlenes Dynamik besteht aus ganz viel Lernen und einem abgeschlossenen Jura-Studium in Paris, weil dieses für Frauen in Deutschland nicht erlaubt ist. Danach schreibt sie in München ihre Doktorarbeit. Fräulein Dr. Marlene von Runstedt hat sich für den Kampf für Frauenrechte entschieden. Und wer für Frauen erfolgreich kämpfen will, muss dafür in die Politik gehen. Der Preis für eine solche Karriere ist hoch. Marlene kann dies nur bewerkstelligen, wenn sie ledig bleibt und für den guten Ruf im Zölibat lebt.
Die Bestseller-Autorin Micaela A. Gabriel wurde über ihre Tochter, die als Historikerin nach den ersten Politikerinnen im Reichstag forschte, auf die Pionierinnen aufmerksam. Dieses Thema begann sie so zu fesseln, dass daraus ein umfangreiches Werk aus drei Teilen wurde.
1918 durften Frauen erstmals wählen und für ein politisches Amt gewählt werden. 1919 schafften 37 Frauen den Einzug ins Parlament und standen 423 Männern gegenüber, die sie schon aus Gewohnheit nicht ernst nahmen. Ihre politische Arbeit begann auf den Hinterbänken und ist ein wichtiger Schritt für die Emanzipation. Laut dem Grundgesetz sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Es gab jedoch viele weiterführende Artikel, die Frauen ihre Eigenständigkeit abgesprochen haben. Erst über den Umweg des Bundesverfassungsgerichtes erhielten Frauen 1953 in Artikel 117 die Gleichberechtigung in Familie und Ehe.
Die Autorin zeigt im ersten Teil unter anderem Marlenes persönliche Opfer. Sie führt dank ihres liberalen Vaters, einem Rechtsanwalt und Professor, ein privilegiertes Leben. Als Gegenpol zeigt Micaela Gabriel am Beispiel von Marlenes Schulfreundin die bittere Armut. Sonja steigt am Ende eines Hinterhofs viele Treppen bei Gestank und Dunkelheit hoch, um ihr Zuhause, eine kleine Dachmansarde, zu erreichen. Dort lebt sie mit ihrer Mutter, die sich und ihre Tochter mit schlecht bezahlten Näharbeiten durchbringt. Die Armut in ihrem Wohnviertel ist so groß, dass die Mieter tagsüber ihre Betten an Nachtschichtler untervermieten.
Für die Liebe ist bei den Frauen wenig Raum, auch wenn der adelige Oswald für beide die erste Wahl ist. Die idealisierte Liebe hält nicht nur bei ihnen über zwei Jahrzehnte. Unter dem Gesichtspunkt der Dramaturgie erfährt Marlenes Leben zahlreiche Wendungen und Schicksalsschläge.
Für ihren historischen Roman hat Micaela Gabriel historische Personen als Blaupause genommen und eine kurzweilige Geschichte über das Abstreifen von juristischen und gesellschaftlichen Fesseln geschrieben. Ihr umfangreicher Roman zeigt sehr anschaulich, dass eine Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern erst auf dem Papier beginnt, um anschließend eine lange, lange Reise zu beginnen.
Micaela A. Gabriel: Die Frauen vom Reichstag: Stimmen der Freiheit.
Rowohlt, März 2022.
480 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.