In der Regel wollen Abenteuer bestanden werden. Ein bisschen Nervenkitzel, ein wenig Lebensgefahr und zum Finale wird vor einem geeigneten Publikum der Wagemut zelebriert. In geselliger Runde und gegebenenfalls zum Zwecke der eigenen Vermarktung steht der Abenteurer als ganzer Kerl im Zentrum der Bewunderung. Im optimalen Fall sieht man ihn als Trendsetter oder Vorbild an.
Der Kanadier John reist 1910 per Schiff in die Arktis. Die Welt aus Eis und Polarkälte nimmt ihn schließlich gefangen, als Packeis das Schiff umschließt. Mit Sprengladungen soll es befreit werden. Doch der Versuch geht in jeder Hinsicht schief und dies nicht nur weil Johns Finger zerfetzt werden. Von den Einheimischen, den Enmynern, ist zu erfahren, dass der Weg zum nächsten Arzt dreißig Tage dauern wird. Eine gefährliche Reise und erst recht für einen Verwundeten. Nachdem der Kapitän drei Männern je ein altes Gewehr verspricht, wenn sie John gesund zurückbringen, geht die Fahrt mit Schlitten und Hunden los.
Zwei Tage später übernachten sie bei Nomaden, die ihnen Schutz vor dem herannahenden Sturm bieten. Zu Johns Glück ist eine Heilerin in der Nähe, die ihn operieren und sein Leben retten kann. Im Fieberwahn glaubt er, bei Kannibalen gelandet zu sein. Und nicht nur er hat Angst, auch seine Retter befürchten Schlimmes. Was würde der Kapitän wohl sagen, wenn sie ihm den Freund mit amputierten Fingern zurückbrächten? Schließlich hatte die Rache des weißen Mannes bereits zu einigen Todesfällen unter der Bevölkerung geführt.
Der Autor Juri Rytchëu wurde 1930 als Sohn eines Jägers im äußersten Nordosten Sibiriens geboren. Als erster Schriftsteller eines nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes beschrieb er, wie seine Kultur ausstirbt. 2008 starb er in St. Petersburg. Sein wunderbarer Roman „Traum im Polarnebel“ aus dem Jahr 1968 ist ein Abenteuerroman der besonderen Art. In einem mal nüchternen, mal lakonischen Stil beschreibt er, wie Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen aufeinanderprallen, um Verständnis ringen, Missverständnisse ernten und nach einem Kräftemessen wenige Gewinner vielen Verlierern gegenüberstehen. Der Preis der Zivilisation wird auch von den Bewohnern des Ortes Enmyn, einer Tschuktschensiedlung bezahlt, die John aufnehmen, weil der Kapitän das Weite gesucht und gefunden hat. Zahlreiche Widrigkeiten bauen den Spannungsbogen auf. Besonders viel Charme versprüht die sich verändernde Beziehung zwischen John und seinen Rettern. Aus der gegenseitigen Abneigung entsteht allmählich eine echte Kameradschaft, eine Freundschaft, die tiefer geht als so manche Liebe. Und am viel zu schnellen Ende kommt der große, stets unterschwellig angekündigte Knall, ein Showdown, der in seiner Doppeldeutigkeit unvergesslich bleibt.
Juri Rytchëu: Traum im Polarnebel (1968).
Unionsverlag, Januar 2005.
376 Seiten, Taschenbuch, 11,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.