Frank Kafka liegt mit gerade einmal 40 Lenzen im Lungen-Sanatorium. Eigentlich ist es nur eine Frage von Stunden, bis der Arzt das Leintuch über sein Gesicht ziehen wird. Doch dann passiert etwas Unerwartetes, etwas Ungewöhnliches, etwas Merkwürdiges. Kafka erwacht, das erste Mal seit Jahren, mit einer freien Lunge. Er atmet tief durch und verspürt, ebenfalls seit Monaten unbekannt, ein merkwürdiges Gefühl – ist es, ja es ist profaner Hunger!
Dass ein lebensgroßes Insekt, offensichtlich eine Kakerlake mit Namen Gregor, sich bei ihm im Zimmer aufhält – wen schert’s? Jetzt wird erst einmal geschlemmt – mit Leberwurst und das ihm, als damit ehemaligem Vegetarier. Die Situation wird noch skurriler, als ein Inspektor ihn als Privatermittler für die Aufklärung einer mysteriösen Mordserie verpflichten will. Beide, ein Mensch, dessen Körper zwischen der männlichen und der weiblichen Form changiert, setzt ihn auf eine Mordserie an, die Wien erschüttert. Leichen werden aufgefunden, die erdrosselt wurden. Offensichtlich wurden sie erhängt – nur, kein Abschiedsbrief, kein Seil, kein rechter Tatort – von einem nachvollziehbaren Motiv wollen wir einmal gar nicht sprechen. Irgendwie scheinen die Toten mit einem Künstler zusammenzuhängen, der sich allabendlich im Varieté erhängt – und danach munter von dannen schreitet …
Was ist dies für ein skurriler Roman? Ein Kriminalplot, eine – gelungene – Hommage an Franz Kafka, ein Werk, das viel Lokalkolorit des Wiens des Jahres 1924 ausstrahlt, dabei aber den Fokus auf die merkwürdigen Situationen richtet. Dabei wirkt Kafkas Stichwortgeber und Begleiter Gregor gar nicht so unglaubwürdig, wie man annehmen sollte.
Reminiszenz an echten Kafka
Der Roman lebt zum einen von den Reminiszenzen an den „echten“ Franz Kafka, die der Autor immer wieder, in Nebensätzen, einfließen lässt. Das andere große Pfund, mit dem Steinhagen wuchert, ist sicherlich der trockene Humor, der den Text auszeichnet. Amüsante Betrachten, merkwürdig skurrile Begegnungen und wunderbar hintergründig beschriebene Szenen wechseln sich ab und machen das Buch über weite Teile zum Selbstläufer.
Leider hält der Verfasser nicht ganz bis zum Ende durch. Das Finale mit der Aufklärung des Verbrechens ist zu einfach konstruiert, will nicht so recht zum Rest des Romans passen. Bis dahin aber erwartet den Lesenden ein interessanter Roman voller interessanter Ideen und skurriler Begegnungen.
Jon Steinhagen: Kafka und der Tote am Seil .
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Simon Weinert.
Penhaligon, Dezember 2022.
428 Seiten, Taschenbuch, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Carsten Kuhr.
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