John Lanchester: Die Mauer

Eine beängstigende Dystopie, die im wahrsten Sinne des Wortes Gänsehaut bereitet. Schon der erste Satz „Es ist kalt auf der Mauer“, bringt es treffend auf den Punkt. Erbarmungslos klar schildert der Autor die alles durchdringende Kälte auf dem Schutzwall. Die frostigen Temperaturen sind ein Spiegelbild der Kälte, die in der neuen Gesellschaft „nach dem Wandel“ vorherrscht.

John Lanchester führt aktuelle Begebenheiten des Weltgeschehens fort – wie Klimawandel, Flüchtlingsströme oder den Brexit – und verortet sie in einer düsteren Welt, die nur ein bis zwei Generationen nach uns folgen könnte. Schauplatz ist England, das seine komplette Küstenlinie mit einer Mauer vom Rest der Welt abgeriegelt hat. Grund: Die Insel gehört zu den Staaten, die nach dem „Wandel“ mit einem blauen Auge davongekommen sind. Während die meisten Länder durch den gestiegenen Meeresspiegel untergehen oder durch den Klimawandel verdorren, kann sich England noch einigermaßen autark versorgen. Damit dies so bleibt, werden Flüchtlinge, genannt „Die Anderen“, auf Abstand gehalten. Junge Briten beiderlei Geschlechts müssen zwei Jahre Dienst auf der Mauer leisten, um ihr Land vor Eindringlingen zu verteidigen. Keine leichte Aufgabe: Sollte es einem der Anderen gelingen, die Mauer zu stürmen und ins Landesinnere vorzudringen, wird dafür ein Wächter aufs Meer verbannt. Die Einzigen, die dem Dienst an der Mauer entkommen können, sind die „Fortpflanzler.“ Doch in einer gnadenlosen Welt wollen die meisten keine Kinder mehr bekommen.

Auf die „Anderen“ wartet nach ihrer illegalen Migration allerdings auch kein Paradies auf Erden. Da sie keinen Registrierungschip unter der Haut tragen wie alle übrigen Briten, werden sie nach wenigen Tagen aufgegriffen. Dann haben sie die Wahl eingeschläfert, aufs Meer zurückgeschickt oder zu einem „Dienstling“ gemacht zu werden. Hinter dem harmlosen Wort verbirgt sich nichts anderes als eine entrechtete Knechtschaft für die Eliten Englands.

Wer die „Anderen“ sind, lässt der Autor bewusst offen. Er handelt sich weder an Ethnien, Völkern oder Religionen ab. Im Laufe des Plots kommt heraus, dass alle schnell zu den „Anderen“ werden können. Erzählerisch begleiten wir die Geschichte aus der Perspektive von Kavanagh, Spitzname „Yeti“, einem jungen Rekruten, der seinen Dienst auf der Mauer antritt. Die Kälte, die Langeweile, die zermürbenden Schichten mit stundenlangem Starren auf „BetonWasserHimmel“ – Kavanagh will all dies möglichst schnell hinter sich bringen. Zum Glück begegnet er Hifa, für die er Gefühle hegt. Bis eine Katastrophe über die Mauer hereinbricht…. Verzweiflung, Hoffnung, Wut, Hass und Verrat sind Emotionen, die der Autor gekonnt transportiert. Tiefgehende Reflexionen wird man bei den Rekruten allerdings nicht finden. Sie haben die Welt bereits so vorgefunden wie sie ist und fügen sich in ihr Schicksal. Oft wirken sie distanziert und abgeklärt, was sie angesichts der Umstände wohl sein müssen. Mauer und Dienstlinge werden nicht in Frage gestellt. Das Ziel lautet, die zwei Jahre zu überleben und mit etwas Glück in den Kreis der Elite aufzusteigen. Der Schutzwall hat zu funktionieren, ein eigener Schutzwall umgibt sie alle. Sogar die geschlechtliche Anziehungskraft ist durch die vielen Kleiderschichten außer Kraft gesetzt. Menschlich über sich hinauswachsen, dies geschieht in Ausnahmesituationen, in der die Welt sie zur Reflexion und zum Rollentausch zwingt.

Daneben kommt es zum Zerwürfnis der Generationen. Kavanagh und Hifa haben ihren Eltern nichts mehr zu sagen. Es ist die Generation, die den Wandel noch hätte aufhalten können, die aber „alles gegen die Wand gefahren hat“. Ausbaden muss es nun die Jugend.

Und das tut sie. Dafür findet der Autor eindrückliche Szenen, die gerade aufgrund ihrer klaren, schlichten Erzählweise so beängstigend wirken. Er stellt das Grausame als normal dar. Im Grunde genommen ist es das bereits in manchen Teilen der Welt.

Mauern gab es schon immer. Dieses Archesymbol, das sowohl Angst und Ausgrenzung, als auch Sicherheit und Zusammengehörigkeit verkörpert – je nachdem auf welcher Seite man steht – verliert nichts an Aktualität. Die Chinesische Mauer, die Mauer zur ehemaligen DDR, die geplante Mauer zwischen der USA und Mexiko, die symbolische Mauer, die der Brexit gezogen hat.

Es scheint, als drehe sich die Menschheit im Kreis. So will der Autor sein Buch als eine Art Mahnschrift verstehen, was in naher Zukunft folgen könnte, wenn alles so weiterläuft wie bisher. Insbesondere der Klimawandel liegt ihm am Herzen.

John Lanchester wurde in Hamburg geboren, wuchs im Fernen Osten auf, arbeitete als Lektor für den Penguin Verlag in London, war darüber hinaus Restaurantkritiker, Kolumnist und Redakteur. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet. Er hat in vielen Ländern gelebt, über den Tellerrand beziehungsweise die Grenzen hinausgeschaut und ist durch einen wiederkehrenden Traum auf die Idee eines Buches über die Mauer gekommen. Mit dieser hat er einen eigenen Mikrokosmos geschaffen. „Beeile dich und warte“ lautet das Motto auf dem Schutzwall. Denn das einzige was schlimmer ist, als wenn nichts passiert, ist, wenn doch etwas passiert.

Wie es zu dem „Wandel“ kam, wird im Buch nur angedeutet, nie klar umrissen. Darin liegt der nächste Schrecken. Denn das Dunkle, Vage, Mögliche wirkt bedrohlicher als das Offensichtliche.

Eine Dystopie, die ihre Fühler bereits in die Gegenwart ausgestreckt hat. Und die einem beim Lesen Schauer über den Rücken laufen lässt. Es ist kalt auf der Mauer. Und nicht nur dort.

John Lanchester: Die Mauer.
Klett-Cotta, Januar 2019.
348 Seiten, Gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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