Ich muss zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, als die Enkelin meiner Nachbarn in mein Freundebuch schrieb. Unter „Lieblingsserie“ notierte sie „iCarly“. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, was das war, aber damit bin ich in meiner Generation ein Einzelfall. iCarly war eine der erfolgreichsten Kinderserien der frühen 2000er, produziert von dem Kinderunterhaltungs-Megakonzern Nickelodeon.

Die Hauptdarstellerinnen gelangten dadurch zu weltweiter Bekanntheit – und eine von ihnen ist Jennette McCurdy. Vor der Kamera spielt sie die durchgedrehte, witzig-zynische beste Freundin der Hauptdarstellerin. Hinter der Kamera ist sie ein traumatisiertes Kind, das von seiner Mutter missbraucht und emotional erpresst wird.

„I´m Glad My Mom Died” erzählt den schockierenden Weg einer Kinderschauspielerin, die durch den Job und den emotionalen wie körperlichen Missbrauch ihrer Mutter zu Grunde gerichtet wurde. Die Autobiografie teilt sich in „davor“ und „danach“ und zeigt im ersten Teil alles, was in der vertrauten Umgebung schiefgelaufen ist: Mit fünf Jahren muss Jennette anfangen zu Castings zu gehen, denn der Traum ihrer Mutter ist es, Schauspielerin zu sein – ein Traum, den sie durch ihre Tochter auslebt. Jennette will nicht schauspielern.

Sie findet keinen Weg zu sich selbst, kann sich nicht entwickeln, weil sie immer eine Rolle spielt. Von Managern wird sie als „das Kind, das auf Kommando weinen kann“ gehandelt. Wie sie auf Kommando weint? Das sechsjährige Mädchen stellt sich immer schlimmere Szenarien vor, die sie innerlich zerstören. Mit jeder Träne leidet sie. Aber sie hört nicht auf. Um ihre Mutter stolz zu machen. Immerhin weiß eine Mutter ja auch, was das Beste für ihr Kind ist, oder? So zum Beispiel auch, als sie Jennette durch das krankhafte Kalorienzählen die Magersucht beibringt – die sich im späteren Leben zur Bulimie entwickelt, mit der die junge Frau trotz jahrelanger Therapie noch zu kämpfen hat – damit sich ihre Brüste nicht entwickeln, damit sie kindlich bleibt und mehr Jobs bekommt.

Kontrollsüchtiges Missbrauchsverhalten

Mit acht Jahren darf Jennette nicht alleine aufs Klo, mit sechzehn wird sie noch von ihrer Mutter geduscht, die dabei ihre Geschlechtsteile „untersucht“. Ein kontrollsüchtiges Missbrauchsverhalten, das auch vor Managern, Produzenten und Jennettes ersten Beziehungen nicht Halt macht.

Ein schockierendes Buch, das man nicht aus der Hand legen kann. Ein bisschen wie bei einem Unfall, wenn es nicht gelingt, wegzuschauen. Jennette McCurdy, die sich heute aus der Schauspielerei zurückgezogen hat, erzählt ihre Lebensgeschichte mit Humor und Ironie, aber nach Lachen ist einem an keiner Stelle zu Mute. Ein unglaublich wichtiges Werk, das uns die Augen für die Unterhaltungsindustrie öffnen sollte. Für jedes einzelne Kapitel müssten mehrere Triggerwarnungen ausgesprochen werden, für einen fühlenden Menschen ist es unmöglich, unbeschadet aus diesem Leseerlebnis hervorzugehen. Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich jedem einzelnen ans Herz legen, die Geschichte dieser unglaublich starken Frau zu lesen. Es ist nicht nur ein Weg in die Zerstörung, es ist auch ein Weg wieder heraus. Ein Buch, das schockiert, die dunkle Wahrheit hinter der Kamera zeigt, aber auch Hoffnung gibt, dass man alles bewältigen kann, egal wie viele Steine einem vom Leben in den Weg gelegt werden.

Geschmackloser Sticker

Geschmacklos finde ich den grünen Sticker auf der deutschen Ausgabe: „Bekannt aus der Fernsehserie iCarly“. Wenn die Autorin in ihrem Buch betont, wie sehr sie es hasst, für diese Serie, die ihre Kindheit zerstört hat, bekannt zu sein, kann man ihr doch wenigstens so viel Respekt entgegenbringen und sie nicht für Profit weiter ausschlachten. Sie ist berühmt, das Buch ist bereits ein internationaler Bestseller, ich denke nicht, dass das nötig ist.

Jennette McCurdy: I´m Glad My Mom Died.
Aus dem Englischen übersetzt von Henriette Henriette Zeltner-Shane und Sylvia Bieker.
Fischer, Mai 2023.
384 Seiten, Taschenbuch, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Isabella M. Banger.