Der kanadische Übersetzer und Schriftsteller Jacques Poulin (Jahrgang 1937) hat mit dem 1984 im Original erschienenen Buch „Volkswagen Blues“ eine klassische Roadnovel geschrieben, die in seinem Heimatland längst Kultstatus hat. Nun veröffentlichte der Carl Hanser Verlag den Roman am 21. September 2020 in einer Übersetzung von Jan Schönherr erstmals auf Deutsch.
In „Volkswagen Blues“ macht sich der Schriftsteller Jack Waterman vom kanadischen Québec aus auf die Suche nach seinem älteren Bruder Théo, den er zwanzig Jahre lang nicht mehr gesehen hat. Eine Postkarte von Théo führt ihn zunächst nach Gaspé östlich von Québec. Unterwegs in seinem alten VW-Bus lernt er dort das Mädchen Pitsémine, auch Große Heuschrecke genannt, kennen. Ihr junger schwarzer Kater, Chop Suey, reist im Rucksack mit. Pitsémine hat eine indianische Mutter, einen weißen Vater und praktischerweise eine Ausbildung zur Automechanikerin.
Im Museum von Gaspé finden sie den Text, den Théo auf die Postkarte drucken ließ. Er ist von dem Franzosen Jacques Cartier, der 1534 auf seiner ersten Reise auf der Suche nach einer Westpassage Richtung Fernost an der Ostküste Kanadas landete. Im Gästebuch des Museums finden sie eine Adresse in St. Louis, Missouri, USA, mit der sich Théo dort eingetragen hatte.
Der Mann, das Mädchen und der Kater machen sich mit dem Bulli auf den Weg nach St. Louis. Damit beginnt eine Reise quer durch Nord-Amerika bis nach San Francisco. Sie besuchen Museen, stöbern in der Geschichte der USA, lesen viele Bücher, folgen dem legendären Oregon Trail der Siedler und küren die traurigsten Lieder der Welt. Sie treffen u.a. auf Saul Bellow, die Frau eines Rodeo-Cowboys und einen alten Tramper. Schließlich endet die Reise in San Francisco bei einer Zirkusvorstellung.
Jacques Poulins „Volkswagen Blues“ beschreibt nicht nur die Suche nach einer Person, sondern auch die Suche der beiden Hauptfiguren nach ihren Wurzeln, ihren Identitäten. Auf dieser langen, gemächlichen Reise durch den nordamerikanischen Kontinent bilden die beiden ein gutes Gespann, obwohl sie Einzelgänger sind. Dieses ungleiche Paar macht den Reiz der Geschichte aus. In den Dialogen zwischen ihnen erfahre ich als Lesende viel über die Eroberung Amerikas durch den „weißen Mann“ und die Vertreibung und Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner. Die Wut über die Ungerechtigkeit und Gewalt gegen die Indianer trägt Pitsémine mit sich. Sie ist schnell, manchmal ungestüm.
Jack folgt seinen familiären Spuren. Er erzählt dem Mädchen Kindheitserinnerungen, Geschichten über seinen älteren Bruder Théo. Aber sucht Jack wirklich den Familienanschluss? Er hadert und zögert. Die große Heuschrecke muss ihn immer wieder anschubsen. Er reist einem Bild von Familie, von seinem Bruder hinterher, wie er selbst an einer Stelle des Romans sagt. Und was ist, wenn er seinen Bruder Théo findet?
Das Buch ist Anfang der 1980er Jahre im Original erschienen und ist so wie der alte VW-Bus ein wenig in die Jahre gekommen. Beim Reisen erreicht man (außer in Corona-Zeiten) heute ganz andere Geschwindigkeiten, Reichweiten und Destinationen. Tempo und Erzählweise dieses Romans dagegen muten ein wenig betulich und altmodisch an. So wird es für die erst jetzt erschienene deutsche Ausgabe eher nicht mehr zum Kultstatus reichen. Nichtsdestotrotz lohnt sich das Lesen von „Volkswagen Blues“ nicht nur für Nostalgiker und VW-Bulli-Fans.
Jacques Poulin hat mit „Volkswagen Blues“ eine preisgekrönte Roadnovel geschrieben, deren Figuren ich auf ihrem Weg mit aller Sympathie begleite.
Jacques Poulin: Volkswagen Blues.
Hanser Verlag, September 2020.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.