Die Zukunftsperspektive einer jungen Frau war in Großbritannien in den späten 80er Jahren oft dieselbe: Ein Leben im Schatten des Ehemannes ohne eigene Selbstverwirklichung. Dieser tristen Realität zum Trotz schildert der britische Bestsellerautor J. L. Carr in dem erstmalig 1988 erschienenen Roman „Leben und Werk der Hetty Beauchamp“ eine feministische Perspektive einer jungen Frau, die fest davon überzeugt ist, dass ihr Leben mehr zu bieten hat als zu heiraten, eine Familie zu gründen und dem Ehemann alle Wünsche zu erfüllen.
Die 18-jährige Hetty hat bald ihren Schulabschluss in der Tasche und möchte ihrer Bildung auch nach der Schule einen hohen Stellenwert beimessen. Vonseiten ihrer Eltern – besonders der ihres cholerischen Vaters – erfährt sie allerdings mehr Gegenwind als Unterstützung, besonders, was ihre Liebe zur Literatur angeht. Als jedoch ein gewaltiges Geheimnis an die Luft kommt, beschließt Hetty, fortan ihren eigenen Weg zu gehen.
Dass J. L. Carr in der damaligen Zeit die Perspektive einer selbstbestimmten Protagonistin beleuchtet, verdient Lob. Carr zeigt in seinem Roman realitätsnah, welche Rolle Frauen in der Gesellschaft und Familie zu der Zeit einnahmen und dass der Status quo eben nicht im Sinne aller Frauen war. Der Roman ist allein schon deshalb lesenswert, weil es interessant ist zu erfahren, wie ein feministischer Roman in den 80er Jahren umgesetzt wurde. Spoiler: Man kann sich erschreckend gut in Hettys Lage hineinversetzen. Sie ist eine schlagfertige junge Frau, die einen mit ihren kecken Aussagen häufig zum Schmunzeln bringt. Im Vergleich zu anderen Figuren im Buch ist sie ein erfrischender Luftzug, was ihre modernen Denkweisen angeht. Sie verhält sich für ihr Alter auch schon ziemlich erwachsen, gleichwohl sie selbst feststellen muss, dass sie sich selbst noch gar nicht richtig kennt. Ihr Weg ist mit Scheitern und anschließender Selbstreflexion verbunden, wodurch man Hettys Selbstfindung unmittelbar mitbekommt. Es wird im Roman allerdings wenig Auskunft über Hettys Gefühle und Ängste gegeben, weshalb sie an manchen Stellen zu kühl erscheint. Man bekommt zwar mit, wie sie sich weiterentwickelt, jedoch fehlt ihre emotionale Seite in einigen Passagen. Das macht es auf Dauer schwer, mit Hetty zu sympathisieren. Hinzu kommt, dass man nach dem Lesen das Gefühl hat, andere Figuren fast schon besser zu kennen als Hetty selbst, da der Plot größtenteils aus Hettys Begegnungen und Gesprächen mit anderen Charakteren besteht. Diese Gespräche sind voller politischer und philosophischer Inhalte und Lebensweisheiten, wohingegen Hetty in ihnen oft zu kurz kommt. Das macht es auf der anderen Seite wiederum interessant, da ihr Charakter weniger glatt erscheint und man viel Raum für eigene Interpretationen ihrer Person hat.
Der Erzähltext enthält viele Zitate aus Gedichten und anderen literarischen Texten. Das ist an und für sich abwechslungsreich, wobei der Plot dadurch teilweise ins stolpern gerät. Auffällig ist zudem die überdurchschnittliche Anzahl an Klammern, die recht untypisch für Erzähltexte sind und an die man sich daher erst gewöhnen muss. Hinzu kommen andauernde Verweise auf britische Persönlichkeiten und Werke, die es einem erschweren, dem Roman ohne viel Kontextwissen folgen zu können. Verfügt man nicht über das nötige Wissen und schlägt es auch nicht nach, dann fühlt man sich an manchen Stellen, als würde man etwas verpassen – man fühlt sich nicht nur so, man tut es auch. Dem kann man aber gekonnt entgehen, indem man sich mehr Zeit für das Werk nimmt. So kann man sein ganzes Potential ausschöpfen und baut gleichzeitig einen stärkeren Draht zur britischen Literatur und Geschichte auf.
Irgendwas hat Hetty gefehlt, um wirklich mit ihr mitzufühlen und um wirklich in die Geschichte einzutauchen. Der Roman fühlt sich rückblickend fast an wie ein Rätsel, in dem es zu entschlüsseln gilt, wie Hetty wirklich denkt und fühlt. J. L. Carrs Werk ist zwar keine leichte Lektüre, da etliche Verweise vorkommen, für die erweitertes Wissen erforderlich ist, jedoch eignet es sich gut für Menschen, die sich selbst als Liebhaber der Poesie oder der britischen Literatur bezeichnen würden. Es werden darüberhinaus kontroverse Themen angesprochen, mit denen sich auch heute noch kritisch auseinandergesetzt wird, wie zum Beispiel die kapitalistische Welt und die Frage nach der Wichtigkeit der Schulbildung. Der Roman ist insgesamt ein eher anspruchsvolles Werk, das etwas über die Welt aussagen will, anstatt nur zu unterhalten.
J. L. Carr: Leben und Werk der Hetty Beauchamp (1988).
Aus dem Englischen übersetzt von Monika Köpfer.
DuMont Buchverlag, Mai 2022.
240 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Melina Lange.