Henry James: Was Maisie wusste (1897)

Kriegsschauplatz Kind: In unbarmherziger literarischer Härte schildert Henry James, wie eine Scheidungsschlacht auf dem Rücken der kleinen Maisie ausgetragen wird. Eitelkeit, Gier, Schwächen und Sehnsüchte aus der Erwachsenenwelt brechen über das Mädchen herein. Die Szenen spielen sich direkt vor dem Kind ab – doch können wir Leser nie sicher sein, was Maisie wirklich davon versteht. Diese ungewöhnliche Erzählperspektive birgt einen ganz eigenen Reiz. Wird Maisie an der berechnenden, illoyalen Welt der Erwachsenen zerbrechen? Oder wird sie daran reifen und gar ihre eigene, außergewöhnliche Position ausnutzen?

Maisie fungiert als ein „jederzeit verfügbares Gefäß für Gehässigkeiten“. Die Elternteile beanspruchen das Kind jeweils für sich, aber nicht um des Kindeswohls willen, sondern um dem anderen mit Maisies unfreiwilliger Hilfe „gegenseitig Verletzungen zuzufügen“. Zu Beginn versuchen sie das Kind an sich zu binden, um den Partner als unfähig dastehen zu lassen. Später, als sie beide in neuen Beziehungen stecken, versuchen sie das Kind dem anderen aufzuhalsen, da es nun im Weg steht. Zwischendurch wird versucht, Maisie zu beeinflussen oder auszufragen, was diese jedoch bald durchschaut und sich eine Schweigetaktik zu eigen macht, um nicht in die Rachespielchen ihrer Eltern hineingezogen zu werden.

Die Lieblosigkeit der Erwachsenen erschreckt. Auch ansonsten ist der Begriff des „Kindeswohls“ im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht allzu geläufig. Gerade erst Darwins Theorien angenommen, sieht die Gesellschaft Kinder in etwa auf Stufe von Affen. Wir Leser begleiten Maisie in einem Alter von sechs bis etwa 13 Jahren. In dieser Zeit wird sie wie ein Spielball zwischen Eltern, Stiefeltern, Liebhabern und Gouvernanten hin und her geschubst. Maisie ist nicht nur auf existenzieller Ebene an die Erwachsenenwelt gebunden. Sie besucht keine Schule, hat keinen Kontakt zu Gleichaltrigen. Somit liegt der emotionale und geistige Reifeprozess des Mädchens ebenfalls ganz in den unzuverlässigen Händen ihrer Familie. Maisie muss schnell lernen, deren Spielregeln zu beherrschen. Dabei wird sie mit Fragen wie „Unmoral“ konfrontiert, die sie noch gar nicht verstehen kann. Doch das Mädchen beweist einen starken Charakter.

Was genau versteht Maisie? Dies lässt der Autor offen. Er beschreibt Situationen, die das Mädchen miterlebt. Er gewährt uns Einblicke in Maisies Gedankenwelt und wir spüren einerseits, wie erstaunlich reflektiert sie das Verhalten der anderen bewertet. Aber wir merken auch, wenn sich Differenzen zwischen Innen- und Außenwahrnehmung auftun. Während die Leserschaft bei der Beschreibung einer Szene ahnt, dass sich hier eine Affäre oder ein Täuschungsmanöver anbahnt, erkennt Maisie zwar, dass etwas nicht stimmt, ist sich aber oftmals nicht des ganzen Ausmaßes bewusst. Neben ihrer Gouvernante Mrs Wix, scheint mit Sir Claude, dem neuen Ehemann ihrer Mutter, endlich eine zuverlässige Konstante in Maisies Leben zu treten. Doch der schöne Bohemian erweist sich als ebenso gutmütig wie schwach. Hier fädelt der Autor gekonnt subtile erotische Botschaften ein. Maisie missversteht die Art der Beziehung zwischen Sir Claude und ihrer neuen Stiefmutter Mrs Beale. Die Schwärmerei des Mädchens für ihren Stiefvater und ihr Traum, mit Sir Claude durchzubrennen um alles hinter sich zu lassen, nimmt mit zunehmendem Alter einen merkwürdigen Unterton an. So wird im Buch angedeutet, dass die Sache sich einfacher verhalten würde, wenn Maisie ein Junge wäre.

Die Neuübersetzung des 1897 erschienen Romans überzeugt mit sehr interessanten Anmerkungen. Wird das sprachliches Können des Autors bereits im Plot mehr als ersichtlich, offenbaren die Fußnoten sein besonders Raffinement. Kein Name, kein Ort, kein Accessoire ist hier zufällig gewählt. Welche subtilen Botschaften hinter den Namen Farange und Co stecken, ist einer der vielen Punkte, die der aufschlussreiche Anhang erklärt.

Der Amerikaner Henry James, aus einer bedeutenden Intellektuellenfamilie stammend, hat nach zahlreichen Aufenthalten Europa schließlich als Wahlheimat auserkoren. In den meisten seiner Romane lässt er die alte und die neue Welt aufeinanderprallen. Hier wird dies nur angedeutet. Die leisure class des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die angesichts des Fortschritts an ihrer eigenen Unproduktivität zu zerbrechen droht, steht für den Niedergang des alten Europa. Ein Vorgang, der in der preisgekrönten Serie „Downton Abbey“ bereits vortrefflich skizziert wurde. Plötzlich wird die einst vorherrschende Klasse von Geldsorgen bedroht. Ist ein Gönner verschwunden, muss ein anderer gefunden werden. Wurde das Vermögen verprasst, muss man sich mit reichen Vertretern des anderen Geschlechts einlassen, egal wie alt oder unansehnlich diese auch sein mögen.

Gewiss, die große Frage der „Unmoral“ mag aus moderner Sicht – angesichts allgegenwärtiger Scheidungen und Patchworkfamilien – wie ein überholtes Relikt anmuten. Doch am Ende ahnen wir, dass Maisie viel mehr wusste, als wir glaubten. Denn sie entscheidet sich, anders als die kopflosen Protagonisten um sie herum, nicht für die Person, die ihr am meisten finanzielle Stabilität, sondern am meisten emotionale Stabilität bieten kann. Ob sich dadurch alles zum Guten für Maisie wenden wird, bleibt offen. Doch Henry James benannte das Gegenteil von Unschuld nicht Schuld, sondern Erfahrung. Und Maisie scheint es geschafft zu haben, sich ihre Unschuld trotz aller negativen Erfahrungen bewahrt zu haben. Damit reiht sie sich wunderbar in die Riege der außergewöhnlichen weiblichen Figuren des Autors ein.

Henry James: Was Maisie wusste (1897).
dtv, Juni 2018.
352 Seiten, Taschenbuch, 11,90 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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