Helene Hegemann: Schlachtensee

Titel und Buchcover sagen eigentlich schon alles: Hier darf sich die Leserschaft auf ein literarisches Happening an gewagter, ebenso brutaler wie bissig-burlesker Prosa gefasst machen. In der aber immer ein Hauch Empathie zu den Figuren durchschimmert, mit denen die Autorin wahrlich nicht zimperlich umgeht. Mit dem Titel verweist die in Berlin lebende Autorin nicht auf den Schlachtensee in Steglitz-Zehlendorf, der an keiner Stelle erwähnt wird. Es sind vielmehr die Schlachten, in die ihre Endzwanziger-Protagonisten ziehen und an deren Wendepunkten häufig Gewässer eine bedeutende Rolle spielen. Mal erfährt eine Surferin von der Krebserkrankung ihres Vaters und erlebt eine eigene Nahtoderfahrung im Wasser. Mal findet eine toxische Beziehung zu einem reichen Oligarchen durch ein Bad in der Wolga ein unerwartetes Ende. Mal mündet ein nächtlicher See-Ausflug in einer homoerotisch-verwirrenden Sequenz, durch die Wildscheine ziehen. Oder auch nicht. Hegemanns „Schlachtensee“ ist ein Werk, irgendwo zwischen genial, grotesk und unbequem.

In 15 lose zusammenhängenden Episoden begleiten wir Hegemanns Protagonisten durch verschiedene Orte der Welt: Deutschland, Österreich, Frankreich, USA, Ägypten, Russland. Immer wieder tauchen einzelne Charaktere in unterschiedlichen Altersstufen oder Konstellationen auf. Es sind die großen Themen, welche die Autorin auf ungewöhnliche Weise anschlägt: Macht, Dominanz, Doppelmoral, das Dilemma von Kapitalismus, Gewalt, Drogen, Liebe, Sex. Gewalt ist allgegenwärtig, aber nicht offensichtlich. Zum Teil nur in Fantasien, zum Teil gegen einen selbst gerichtet, zum Teil müssen Tiere als Platzhalter herhalten (für Tierliebhaber bisweilen schwer zu schlucken), zum Teil ist Gewalt gesellschaftlich derart anerkannt, dass sie nicht weiter auffällt.

Eine schöne junge Frau hat einen Hang zu älteren, mächtigen Männern. Mit selbstzerstörerischen Tendenzen. „Menschen, deren Beweggrund Vergeltung ist, interessieren mich mehr als Menschen, die nichts Besseres als die Bekehrung Schwächerer mit sich anzufangen wissen. Die halten mich am Leben. Oder davon ab, dieses Lieben mit einem bulimischen Wechselspiel aus Fressanfällen und Zirkeltraining zu vergeuden. Ich bin nicht stolz darauf. Halte diesen Zug von meiner Persönlichkeit auch eher für ein Zeichen von Beklopptheit als für ein nettes Alleinstellungsmerkmal.“ (S. 50) Diese von Machtstrukturen angezogene Frau im Dunstkreis eines Oligarchen gibt sich ganz den alkoholgeschwängerten Partys und Orgien hin, bevor sie nach einer schlimmen Augenentzündung ins österreichische Elternhaus zurückfahren will, dort aber nicht ankommt, weil sie jedes Mal den Bahnhof verpasst.

In den USA echauffiert sich die intellektuelle Elite über einen Nachbarn, der einen Pfau mit einem Golfschläger erschlagen hat, während sie gerade Gänsestopfleber essen. Der Gastgeber ist ein Marxist. „Ein Marxist mit 15 Karren in der Garage, daneben ein überdachter Tennisplatz.“ (S. 29).

Ob entartete Kunst oder eine perfide Airbnb-Mieterin, welche die gemietete Wohnung zwei Farbtöne dunkler anstreichen lassen, damit dem unfreundlichen Vermieter „für den Rest seines Lebens irgendetwas anderes vorkommt“ (S. 215): Es sind die genialen Spitzen und Einfälle, vor denen dieses Buch nur so sprudelt. Dies verdankt dem Buch seinen abgründigen Humor.

Hegemanns Prosa trifft ihre Leserschaft ins Mark. Ihr Erzählfluss ist stark, aber nicht stringent.

Man weiß nie so genau, wo die Grenzen liegen zwischen Realität, Traum, Drogenfantasie. Betrachtungen zu Kunst, Politik oder zur Biologie des Menschen reißen den Plot immer wieder auf. Dazwischen liegen starke Bilder, die beim Lesen wie getackert im Gehirn haften bleiben. Ihre Liebesszenen sind häufig homoerotischer Natur, überhaupt glänzen ihre weiblichen Charaktere immer erst dann, wenn sie sich der Männer entledigt haben. Nahezu unübertroffen ist Hegemanns Analyse des Geschlechterverhältnisses: Die Frau ist die Erde „und der Typ ist irgendein in eine Häuserlücke abgeladenes Bauwerk, das sofort einstürzt, sobald du anfängst, dich zu bewegen. (…) Männer sind okay, wenn man sie reinlässt. Das ist eine Vervollständig. Die wollen in etwas Lebendiges rein, dass sie aufnimmt. Die wollen uneingeschränkte Zustimmung, vielleicht geht es darum.“ (S. 254)

Grotesk, genial, brutal: Hegemanns Prosa strotzt vor doppelbödigen Abgründen, vor starken Bildern, ätherischen Traumsequenzen, Menschen und Tieren in allen möglichen Zuständen zwischen Leben und Tod. Im zarten Alter von 16 Jahren wurde die Autorin und Regisseurin bereits mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet, im Jahr 2010 sorgte sie mit 18 Jahren durch ihren literarischen Erstling „Axolotl Roadkill“ für Furore. Ihre Prosa hat nichts an Biss verloren, wohl aber an Tiefgang gewonnen.

Helene Hegemann: Schlachtensee.
Kiepenheuer&Witsch, Juni 2022.
272 Seiten, Gebundene Ausgabe, 23,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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