Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst

Wer den Soziologen Harald Welzer kennt, kennt seine Thesen.

In diesem Buch mischt er viel Persönliches mit politischen, wissenschaftlichen und philosophischen Betrachtungen, was es umso lesenswerter macht.

Gleich zu Anfang des Textes bezeichnet Welzer alle vom Menschen erzeugten Produkte (Häuser, Autos, Plastik, Asphalt etc.) als „tote Masse“, die sich seit ca. 1900 alle zwanzig Jahre verdoppelt. Hingegen ist die natürliche „Biomasse“ aller Wildtiere in den letzten fünfzig Jahren laut Welser um mehr als vier Fünftel geschrumpft (S. 11).

Die Absurdität unseres unstillbaren Hungers nach immer weiterem Wachstum zeigt sich sich längst in vielfältigen ökologischen Problemen, im Artensterben und Klimawandel, weshalb Welzer unsere Gesellschaft als realitätsverweigernd  bezeichnet. Die Endlichkeit der Welt wird von uns systematisch negiert.

Wie können wir damit aufhören, unser Leben mit immer mehr Ressourcenverbrauch immer weiter optimieren zu wollen? – Immerhin sühlt sich unsere Gesellschaft geradezu im Wachstumskapitalismus, in dem uneingeschränkter Konsum und das Anhäufen vieler oft nutzloser Produkte als erstrebenswert gilt.

Welzer hält dagegen: „Die Fiktion des immerwährenden Fortschritts durch immerwährendes Weitermachen muss aufgeklärt werden durch eine Kultur, die das Aufhören lernt.“ (S. 119)

Harald Welzer hat durch einen in 2020 erlittenen Herzinfarkt seine ganz persönliche Endlichkeitserfahrung erlebt. Hieraus entstand der Versuch, das eigene Leben zu Ende zu denken: Wie möchte ich an meinem Lebensende definieren, was mein Leben ausgemacht hat? Wie möchte ich in der Erinnerung der Nachwelt weiterleben?

Er empfiehlt, dass jeder Einzelne und letzlich jede Gesellschaft  beizeiten einen Nachruf auf sich selbst verfassen sollte, denn wir leben laut Welzer in einem Zustand der Wirklichkeitsverweigerung. Trotz Klimakrise dreht sich unser Denken nach wie vor um Wachstum. Autos werden immer größer, der angestrebte Kohleausstieg liegt in so weiter Ferne, dass ganz Andere, als diejenigen, die dieses Ziel jetzt anvisieren, einmal handeln müssen. Die Fülle weiterer  Beispiele, die Welser beleuchtet ist groß.

„Aufhören“ ist das Zauberwort, mit dem Harald Welzer trotz aller Absurdität unseres momentanen Handelns noch Optimismus zu verströmen vermag. Sein Essay ist eine Anregung, Gedanken über die Endlichkeit des Seins, die Endlichkeit unserer Gesellschaft durch immer weitere Ausbeutung unserer Lebensgrundlagen und der damit einhergehenden Endlichkeit der Welt zuzulassen, um letztlich vielleicht noch gegensteuern zu können. – Lesenswert!

Harald Welzer: Nachruf auf mich selbst.
S. Fischer, Oktober 2021.
288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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