Wenn die Polizei in einem kalten Fall ermittelt, dann können mitunter Jahrzehnte nach der Ermordung des Opfers vergangen sein. In der Archäologie sind kalte Fälle Alltag. In einem besonders spektakulären Fall wurde vor zwei Jahren in der Solestadt Bad Dürrenberg in Sachsen-Anhalt erneut gegraben. Es handelt sich um eine Grabstelle, die aufgrund ihrer besonderen Lage, nämlich ein erhöhtes Plateau mit einer Weitsicht über das von der Saale durchzogene Tal, auf eine Person mit großem Ansehen hinweist. Auch die wertvollen Grabbeigaben betonen die herausragende Stellung dieser Person vor etwa 9000 Jahren.
1934 fanden Arbeiter beim Verlegen von Wasserrohren ein Skelett. Der Fund wurde gemeldet, auf die Schnelle dokumentiert, die seitlich geöffnete Grabstelle skizziert und nach der Entnahme der augenscheinlichen Fundstücke mit dem Aushub wieder befüllt. Anfangs nutzten Wissenschaftler den Fund, um die These des nordischen Ariers im Sinne von Hitler und Himmler zu beweisen. Für die Propaganda ist bekanntlich nichts und niemand heilig. Dass das Skelett tatsächlich keinem Mann sondern einer Frau gehörte, die auf ihrem Arm ein Baby hielt, wurde ignoriert und vergessen.
Heute kann man im Naturkundemuseum in Halle die besondere Tote aufsuchen, der man aufgrund ihrer früheren Berufung den Namen die Schamanin gegeben hat.
Die Autoren Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, und Kai Michel, Historiker und Literaturwissenschaftler, beschreiben in ihrem Buch, mit welchen Herausforderungen sie bei den erneuten Ausgrabungen und ihren weitreichenden Forschungen gekämpft hatten. Hierbei gewinnt man bei der Lektüre Einblicke in eine detektivische Arbeit, für die zahlreiche Fachleute und -literatur herangezogen wurden. Anfangs nahmen die Autoren die ersten Aufzeichnungen über Schamanismus sprachlich und inhaltlich auseinander. Bei der Interpretation und den Rückschlüssen früherer wissenschaftlicher Autoren wird deutlich, wie mit Worten und kulturell geprägten Perspektiven Begriffe in mehrfacher Hinsicht zu einem Lügengebäude anwachsen, die von anderen gepflegt und weiter beworben werden. Spätestens an dieser Stelle liest sich das fundierte und gründlich recherchierte Buch wie ein Kriminalroman, weil man sich automatisch fragt, wie viele sprachliche Begriffe und falsche Weisheiten auch noch heute unsere Ansichten und unser Leben vergiften.
Die Kooperation mit anderen Naturwissenschaftlern half, die vergangene Kultur der Jäger und Sammler, die ihre Informationen allein mit Überlieferungen festhielten, näher kennenzulernen. Nur indirekt oder über Indizien konnten sie die Todesursache nachvollziehen und wie die Schamanin vor 9000 Jahren gelebt haben könnte.
Den Wissenschaftlern gelingt ein fesselnder Einblick in ihre Arbeit, und sie zeigen, wie existenziell ihre Arbeit ist:
„… Wir haben nicht allein eine Verpflichtung unserer Heldin gegenüber. Das Ziel dieses Buches ist es, mehr über die menschlichen Anfänge zu erfahren und herauszufinden, was die menschliche Natur tatsächlich auszeichnete. Da müssen wir sicher sein, keinen Trugbildern aufzusitzen.“ (S. 88)
Harald Meller, Kai Michel: Das Rätsel der Schamanin: Eine archäologische Reise zu unseren Anfängen.
Rowohlt, Oktober 2022.
368 Seiten, gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.