Eine junge Frau nimmt eine Stelle als Nachtwächterin in einer fast schon aufgegebenen Kartonagen-Fabrik außerhalb der Stadt an. Nur noch wenige Menschen arbeiten hier. Alle warten auf das endgültige Aus und nicht nur die Stimmung, sondern auch die Umgebung ist trist: rundherum Felder, weiter hinten der Wald und der Flughafen, Löcher im Zaun, mit Unkraut überzogener Boden, geschlossene Hallen. Und doch ist die junge Nachtwächterin der Meinung, dass es hier viel zu entdecken gibt. Hier ist noch alles möglich. Sogar der Wolf, den der Koch gesehen haben will und der noch einmal für ein wenig Aufregung sorgt.
Fallen werden ausgelegt, die junge Frau beginnt mit ihrem Kollegen Clemens eine Fallgrube auszuheben und die Überwachungskameras zeichnen auf, was draußen passiert. Allerdings möchte sie nicht, dass dem Wolf etwas geschieht, sie fühlt sich ihm verbunden, verteidigt ihn, den niemand sonst seither gesehen hat. Gibt es ihn tatsächlich? Ist er wirklich gefährlich? Ist er nicht vielmehr nur auf der Suche nach einer anderen Nahrungsquelle, weil er sein angestammtes Umfeld verlassen musste, seine angestammte Beute nicht mehr zur Verfügung steht?
In ihrem Zimmer in einem stillgelegten Fabrikgebäude und auf ihren Rundgängen beginnt sie, das Gelände, die Gegend und ihre Gedanken zu erforschen. Dabei schweift sie ab in Was-wäre-wenn-Überlegungen, spielt Szenarien durch und ergänzt ihr Universal-General-Lexikon mit eigenen Kommentaren zu ihr wichtigen Schlagworten wie Wolf, Zaun oder Grenze. Ihr Gehirn scheint ständig Verbindungen zu knüpfen, ihr Denken geht verschlungene Wege und kommt – deswegen oder trotzdem – zu erstaunlichen Erkenntnissen. Dennoch hat sie mehr Fragen als Antworten. Sie erzählt von Inseln mit skurrilen Bewohnern, von der Beweglichkeit der Erde, zeichnet Inseln und Vogelschwärme (was auch im Buch zu sehen ist) und berechnet, wie viele Flöhe ein Flugzeug ziehen können. Und dann ist da noch der Mann, der vom Himmel fiel und der ihre Aufmerksamkeit eine ganze Weile vom Wolf ablenkt.
Die junge, für ihre Texte vielfach ausgezeichnete Autorin Gianna Molinari nimmt den Leser und die Leserin mit auf eine Entdeckungsreise durch die heutige Welt. Ihre Protagonistin wandert durch eine Wirklichkeit, die gerade durch ihre Absurdität und einige fast unglaubliche Begebenheiten sehr real erscheint. Sie hat ihr bisheriges Leben verlassen, weil sie bezweifelt, dass die Sicherheit, in der sie gelebt hat, der Realität entspricht. Die Sehnsucht nach Wirklichkeit, nach Echtheit, nach Zugehörigkeit zu einer oder sogar mehreren Geschichten teilt sie mit vielen Menschen. Sie möchte, dass ihr Handeln für jemanden oder etwas wichtig ist und lernen Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Auch die Nebenfiguren haben Persönlichkeit: vom Chef, der Schwierigkeiten hat, die Fabrik aufzugeben, die jahrzehntelang im Familienbesitz war, über die Kollegen Clemens und Lose bis hin zum Koch, der davon träumt, ins All zu fliegen und ein berühmter Astronautenkoch zu werden. Alle umgibt – wie auch die Fabrik und ihr Umfeld – eine gewisse Melancholie und Einsamkeit, die allerdings nicht dazu führt, dass sie aufgeben, sondern dass sie sich auf den Weg machen und probieren, für sich das Beste aus der Situation herausholen, wenn auch manchmal mit Verzögerung. Während des Lesens habe ich mir mehr als einmal gewünscht, sie – und auch die junge Nachtwächterin – einmal persönlich zu treffen.
Gianna Molinaris ruhige, poetische Erzählweise rührt an und rüttelt gleichzeitig auf. Denn „Hier ist noch alles möglich“ hat durchaus auch politische und gesellschaftliche Dimensionen: die Vereinzelung der Menschen, die Suche nach Sinn, die Abschottung durch Grenzen und Zäune und nicht zuletzt „den Wolf“, der in letzter Zeit in einigen Gegenden Angst und Schrecken verbreitet.
Äußerlich passiert in diesem Buch nicht sehr viel, aber innerlich überschlagen sich die Gedanken und Gefühle und lösen eine ganze Menge im Leser und in der Leserin aus.
Wer „Hier ist noch alles möglich“ gelesen hat, wird die Welt mit anderen Augen sehen und sie hoffentlich neu entdecken. Klare Empfehlung, unbedingt lesen!
Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich.
Aufbau, Juli 2018.
192 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
Pingback: Buchrezension: Hier ist noch alles möglich von Gianna Molinari - Frau Hemingway
Pingback: Deutscher Buchpreis 2018: Die Longlist - Eine Rezensionsübersicht