„Und irgendwer muss doch darüber sprechen.“, sind die letzten Worte in Emma Beckers frisch erschienenem Roman „La Maison“, einem Buch, das mich wie nur wenige bisher verführt hat und bei dem ich das Gefühl bekomme, dieses Verb sei eigens dafür erfunden worden. Und wenn nicht für diesen Roman, dann für das, wovon er handelt. Wenn ich verführt sage, dann meine ich die Anmut der Weiblichkeit, die die Welt an sich bindet, den Geruch von frisch gewaschener Haut und süßem Parfüm, dann meine ich die Erregung, wie bei flüchtig getauschten Blicken zwischen tanzenden Körpern, ein erstes anziehendes Annähern, eine Verführung voll Licht und Schatten, geheimnis- und verheißungsvoll.
Emma Becker zieht mich zwischen die Seiten ihrer Geschichte und ich komme nicht dazu, mich zu wehren, denke gar nicht daran. Die Intimität ihrer Erzählung, von einem Zuhause, das nur wenige je als solches betiteln würden, von dem Kollektiv einer erkauften Schwesternschaft und nicht zuletzt von reinem, menschlichem Sex, macht mich sprachlos und ist so intensiv, dass sich meine Gedanken noch jetzt, ein paar Tage nach Auslesen des Buches, dagegen sträuben, geordnet zu werden. Sie spricht ein Thema an, das so alt ist wie die Menschheit selbst und über das dennoch, oder gerade deswegen, nie gesprochen wird. Ich meine nicht Sex, dieses Tabuthema entfaltet sich mehr und mehr, nein, was ich meine, was sie meint, ist das Bordell.
Das Bordell, dieser verborgene Jahrmarkt der Lust, die Spielwiese erwachsener Männer, in dem Befriedigung für Geld erfolgt und alle Träume wahr werden können. Emma Becker war dort, ist zwei Jahre ihres Lebens zu einer französischen Hure in einem Berliner Bordell geworden und hat sich verliebt. Nicht in die Männer, die kommen und gehen, nein, in das Haus, die Mädchen, in den ursprungsunbekannten Duft und die zweifelhafte Bittersüße des Berufs einer Prostituierten. Immer wieder zweifelnd und doch selbst wie verzaubert bringt sie ihre Erfahrungen zu Papier und schafft es dabei, jeder Dame des Hauses ein Gesicht zu verleihen, einen Charakter, eine Eigenschaft, die sie unvergleichlich macht. Voller Leidenschaft skizziert sie den Ort hinter den Kulissen, an dem, vor neugierigen Freiern verborgen, geraucht, gelacht und gelebt wird. Und selbst wenn sie mich mitnimmt hinter diesen roten Vorhang, auch wenn sie mich teilhaben lässt an anrüchigen Witzen und tiefen Gesprächen, so bleibt doch ein Teil von mir draußen, sitzt im Warteraum auf der Bank und sehnt sich danach, das erste seidenumspannte Bein durch den Samt schlüpfen zu sehen.
Vielleicht ist es der Reiz des Verbotenen, der die Männer, der Emma Becker in die Arme der Huren treibt, vielleicht ist es die Neugierde. So oder so sei gesagt, dass dieses Buch es vermag, meine Meinung zur Prostitution zu ändern. Die Frauen dort sind Königinnen. Und wohin würden all die verlorenen Männer gehen, gäbe es nicht diesen Ort der fraglosen Verführung, an dem Frauen nichts als Frauen sind und Männer einfach Männer? Was passierte mit den Frauen, die diesen Beruf meistern, die mit den Schwierigkeiten kämpfen, eigene Erregung außerhalb ihres Maisons zu finden, Akzeptanz und Liebe zu erfahren, die Kunstwerke und Künstlerinnen zugleich sein müssen und für die der Rest der Welt „ein Schlachthaus“ ist? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, und das mag seltsam klingen, dass ich niemals ein feministischeres Buch gelesen habe. Dieser Roman erweckt einen bislang unbekannten und übermenschlichen Stolz in mir, eine Frau zu sein, diesem wunderschönen, erhabenen Geschlecht anzugehören und absolut selbstbestimmt zu sein. Er öffnet mir die Augen hin zu einer verborgenen Macht, die die Männerwelt, genau wie den Ort hinter dem Samtvorhang, niemals zu Gesicht bekommen, geschweige denn verstehen wird.
Emma Becker: La Maison.
Rowohlt, September 2020.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Jana Luisa Aufderheide.