Dror Mishani: Vertrauen

Inspektor Avi Avraham aus Tel Aviv überlegt schon seit einer Weile, dass sich in seinem Leben etwas ändern sollte. Das ewige Klein-Klein in der Ermittlung von Verbrechen scheint jeden Tag mehr an Banalität zu gewinnen. An dem Tag, an dem er mit seinem neuen Chef über seine berufliche Orientierung sprechen will, ereignen sich zwei Fälle, die er zunächst völlig voneinander losgelöst betrachtet. Denn was soll ein ausgesetztes Frühchen und die von einem Touristen nicht bezahlte Hotelrechnung auch schon gemeinsam haben? Während seine Kollegin nach der Mutter des Babys sucht und alle anderen gerade auch beschäftigt sind, fährt Avi zu dem Hotel, in dem der Tourist logierte. Was ihn dort erwartet, könnte wieder ein Beispiel für die Banalitäten seines Arbeitsalltages sein. Denn nach der Aussage des Rezeptionisten habe sich die Angelegenheit erledigt. Die Rechnung sei von zwei männlichen Verwandten des Touristen beglichen worden, und sie haben das Gepäck abgeholt. Doch einige Fragen bleiben offen: Warum hat der Tourist nicht selbst ausgecheckt? Wo ist er jetzt? Warum haben sich die zwei Männer so lange im Hotelzimmer aufgehalten? Warum gab der Tourist einen falschen Namen an, während die beiden Männer ohne Identitätsnachweis mit dem Gepäck verschwanden?

Die Fragen und Lügengeschichten nehmen im Laufe der Ermittlung immer mehr Raum ein.

Dror Mishani hat in seinem Roman Vertrauen, den vierten Fall von Avi Avraham bravourös in Szene gesetzt. Das Spiel mit den Lügen und Scheinwahrheiten wird sowohl bei der Ermittlung nach der Mutter als auch nach dem Touristen zu einem nervenaufreibenden Geduldsspiel. In beiden Fällen scheinen die Täter die Polizei stets in eine neue falsche Richtung zu lenken, um mit neuen Lügen die Irritation zu vergrößern. In so einer Situation könnte die Motivation der Ermittler recht groß sein, mit irgendeiner plausiblen Antwort die Akten zu schließen. Avis Kollegin könnte zum Beispiel aufgeben, weil sie an einer unheilbaren Augenkrankheit leidet. Doch das Mitgefühl für das ausgesetzte Neugeborene ist größer als jede Hürde. Auch Avis Ehrgeiz ist gepackt, als ein paar Tage später ein Toter gefunden wird.

Der in Tel Aviv geborene Dror Mishani ist nicht nur ein erfolgreicher Schriftsteller sondern auch Literaturwissenschaftler mit dem Spezialgebiet Geschichte der Kriminalliteratur. Mit dieser seltenen Kombination vereint er handwerkliches Können auf hohem Niveau mit dem fundierten Wissen über ein Genre, in dem bereits viele Autorinnen und Autoren wildern.

Bei Dror Mishani stehen die Motive der Protagonisten im Vordergrund. Wie sein Ermittler Avi geht er bis zum wahren Grund. Im Fall des verschwundenen Touristen muss Avi jedoch den Standort seiner Perspektive wechseln. Damit nimmt er die Leserin und den Leser auf eine unvergessliche Reise mit. Dror Mishanis Roman kann man deshalb nur lieben. Sein Meisterwerk wurde aus dem Hebräischen von Markus Lemke übersetzt. Wer ihn erst jetzt für sich entdeckt hat, dürfte extrem neugierig auf seine anderen Bücher sein.

Dror Mishani: Vertrauen.
Aus dem Hebräischen übersetzt von Markus Lemke.
Diogenes, Februar 2022.
352 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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