Diane Oliver: Nachbarn: Storys

Die amerikanische Autorin Diane Oliver (1943–1966) gewann während ihres Studiums an der University of North Carolina ein Stipendium und wechselte daraufhin zu der University of Iowa. Dort schrieb sie sich in den Schreibkurs ein. Während ihres Studiums veröffentlichte sie die Kurzgeschichte Nachbarn und drei weitere. Ihre schriftstellerische Karriere hätte nun weitergehen können, wenn nicht ein tödlicher Verkehrsunfall kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag gewesen wäre. Was danach geschah, spricht für das Talent der jungen Autorin. Posthum erhielt sie den MFA-Abschluss und eine Auszeichnung für ihre literarischen Leistungen.

Der wechselfreudige Literaturmarkt ließ Diane Oliver zurück: Die Gesellschaft veränderte sich. Im Laufe der Jahre entdeckten Verlage und Literaturagenturen für sich immer mehr Autorinnen und später auch schwarze Autorinnen. Nachdem die Britin Elise Dillsworth bei Diane Olivers Schwester und deren Nichte einen Stapel Manuskripte fand, darf sich die Leserschaft auf neue Erstveröffentlichungen freuen. Die Professorin und Autorin Tayari Jones erklärt in ihrem Nachwort, wie Diane Oliver ihr Denken beeinflusst habe und die Autorin aus diesem Grund eine literarische Vorgängerin sei.

Die Geschichtensammlung von Diane Oliver spiegelt das Leben in den Südstaaten der USA in den 1950-iger, 1960-iger Jahren wider. Der gesellschaftliche Umbruch hatte viele Gesichter, unter anderem von Martin Luther King und Aretha Franklin. Im Alltag wurde zwar die Trennung von hell- und dunkelhäutigen Menschen per Gesetz aufgehoben, nur nicht in den Köpfen der Menschen. An diesen platzenden Nahtstellen beginnen Diane Olivers Geschichten.

Bei den Nachbarn soll ein stiller schwarzer Junge als erster in eine weiße Schule gehen. Die Familie rechnet mit vielen Tätlichkeiten, womit sie nicht rechnet, ist die Reaktion der Nachbarn. In anderen Geschichten wird man Zeuge, wie schwarze junge Frauen als Dienstmädchen von ihren hellhäutigen Arbeitgeberinnen herumgeschubst und ausgebeutet werden. Während eine von ihnen am Ende eines harten Arbeitstages von der Heimkehr ihres Mannes überrascht wird, erwacht die andere aus einem Traum.

Das Spiel mit den Perspektiven und die klare Sprache spiegeln in jeder Zeile das Talent der Autorin wider. Sie erzählt als Zeitzeugin, wie unvereinbar sich die Integration der farbigen Bevölkerung in die weiße Gesellschaft gestaltet und wie eine herrische Haltung dies verhindert. Eine im Wald lebende Familie versucht sich diesen Einflüssen auf eine drastische Weise zu entziehen, die langfristig nicht erfolgreich sein dürfte.

Besonders hervorzuheben ist die kunstvolle Erzählung Gefrorene Stimmen. Hier geht es um freundschaftliche Beziehungen und Untreue, die den Umgang untereinander stört. Die Geschichte beginnt mit prägnanten Sätzen und Wortwiederholung und fängt an, sich um die nackten Fakten des Scheiterns zu kreisen. Und bei jeder neuen Runde läuten diese Sätze und Wiederholungen weitere Informationen ein, die das Spiel der Deutung kontinuierlich verändert.

Weil sich bis heute wenig geändert hat, sind Diane Olivers Geschichten nach wie vor aktuell. Sie berühren, fesseln und machen Lust auf mehr. Nur – leider – ist dies nicht mehr möglich.

Diane Oliver: Nachbarn: Storys
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg
Mit einem Nachwort von Tayari Jones
Aufbau-Verlag, Januar 2024
304 Seiten, Hardcover, 24,00 Euro

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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