„Ich habe keine Vergangenheit, an die ich mich klammern könnte; die letzten dreiundzwanzig Jahre gehören jemand anderem, jemandem, den ich nicht mehr kenne.“ Mit diesen Worten schildert Deborah Feldmann ihre Befreiung aus den Fesseln des Extremismus.
Es wird klar: Unorthodox ist ein autobiographischer Text der Autorin, die schon als Mädchen von der „Welt“ abgeschottet wird, das strengste Kleidervorschriften beachten und im Fall, dass sie nicht „angemessen“ bekleidet ist, mit Strafe rechnen muss. Kommt sie in einem hellblauen Rock zur Schule, wird sie nach Hause geschickt.
Aufgrund seiner dunklen, altmodischen (Einheits-)Kleidung erkennt man das Mädchen auch außerhalb des jüdischen Viertels als chassidische Jüdin, sie bleibt die Außenseiterin, die sich scheinbar freiwillig durch äußere Merkmale wie Kleidung und Sprache von anderen Amerikanern abschottet. Freundschaften außerhalb der Gemeinschaft, in die sie hinein geboren wird, sind unmöglich.
Auch das Recht auf Bildung wird Deborah nur eingeschränkt gewährt.
Die Autorin beschreibt die Regeln, denen sie als Mädchen unterlag, so:
Verstößt ein Kind gegen Kleidervorschriften, wird es bestraft.
Wird ein Kind misshandelt, bleibt dies straffrei.
Als junge Frau heiratet Deborah Feldmann einen Mann aus der Satmar-Gemeinde und verbindet damit die Hoffnung auf ein wenig mehr persönliche Freiheit. Auch in dieser Gemeinde herrscten nach ihren Schilderungen strenge Regeln und die Kontrolle über Einzelne ist groß, der persönliche Freiraum gering. Trotzdem gelingt es der Autorin, sich heimlich als Studentin am College einzuschreiben.
Kurz innehalten, um diese Tatsache zu begreifen: Amerika, 21. Jahrhundert: Eine erwachsene Frau muss sich heimlich immatrikulieren.
Von nun an besucht die Ehefrau und heimliche Studentin Literaturseminare. Auch dieser neue Zugang zu Bildung ermöglicht ihr, ihre persönliche Situation zu reflektieren.
Inzwischen Mutter, fürchtet sie um die Erziehung ihres Sohnes: Sie würde ihn im Alter von drei Jahren in eine Jeschiwa bringen müssen.
Dann folgt ein schwerer Autounfall: Deborah Feldmann rast über die Autobahn, ein Reifen platzt, der Wagen überschlägt sich mehrmals, doch sie überlebt. Hätte Gott mich strafen wollen, hätte er mich jetzt töten können, sind ihre Gedanken und sie nimmt das Erlebte zum Anlass, ihr Leben zu ändern.
In ihrem Fall bedeutet das: Befreiung. Sie reicht die Scheidung ein, zieht mit ihrem Sohn in eine Wohnung und beginnt, ihre Lebensgeschichte zu reflektieren. Wer ist sie? Wo ist der Mensch unter all den Zwängen und Regeln? Wie kann das Leben aussehen?
Die Autorin löste sich von der ultraorthodoxen jüdischen Szene in New York und wohnt nun mit ihrem Sohn in Berlin.
In Amerika ist ihr Buch bereits ein Bestseller, ihre Bekanntheit führte dazu, dass Mitglieder der Satmarer Gemeinde ihr Hassbriefe schrieben, ihre Familie brach mit ihr und erklärte sie für „gestorben“.
Die klare Sprache der Autorin, die völlig unprätentiöse Übersetzung, lassen den Leser jederzeit in die Haut des Mädchens, in die der ausbrechenden Frau schlüpfen.
Fassungslos darüber, was ein kleines Mädchen unserer Zeit in Amerika erlebt hat, wächst mein Bedürfnis danach zu erfahren, wie es weiter ging und geht mit der Autorin in Berlin, mit ihrem Sohn, und nach einem ersten, schnellen Lesen (um so rasch wie möglich zu erfahren: Was dann?) werde ich das Buch sicherlich noch einmal ganz in Ruhe in kleinen Abschnitten lesen, um der Geschichte von Deborah Feldmann gerecht zu werden.
Deborah Feldman: Unorthodox.
Secession Verlag, Februar 2016.
319 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Corinna Griesbach.