Cora Stephan: Margos Töchter

Über neun Jahre ist es her, dass Jana Seliger einen Antrag auf Einsicht in die Unterlagen gestellt hat, die das Ministeriums für Staatssicherheit über ihre Mutter gesammelt hat. Nun, im Jahr 2011, kommt der Bescheid, dass die Akten einen Vorgang zu Leonore Seliger enthalten. Will sie jetzt überhaupt noch wissen, was darin steht? Würde sie erfahren, was im Mai 1991 geschehen war, als ihre Adoptivmutter Leonore ums Leben kam? Nie hatte sich Jana damit abgefunden, dass es Selbstmord gewesen sein sollte. Dass sie vielleicht schon von der zweiten Mutter freiwillig im Stich gelassen wurde. Janas Mann rät ihr, die Vergangenheit ruhen zu lassen, doch sie beschließt, nach Berlin zu fahren, um sich Klarheit zu verschaffen.

Was Jana in den Unterlagen findet, erfahren die Leserinnen und Leser erst eine ganze Weile später. Zunächst nimmt sie die Autorin Cora Stephan mit ins Jahr 1964, in die Jugend von Leonore. Sie erzählt vom (ziemlich gestörten) Verhältnis zwischen Leonore und ihrer Mutter Margo. Nie scheint Leonore ihr gut genug zu sein, eigentlich interessiert sie sich nicht besonders für ihre Tochter. Margos Arbeit steht immer an erster Stelle. Sie ist stolz darauf, was sie erreicht hat. Ihr Mann Henry kann sich die Zeit als Richter so einteilen, dass er daheim ist, um für die Tochter zu kochen, doch er trinkt häufig einen über den Durst und seine Stimmung kann unberechenbar schwanken. Margo entschuldigt das mit seinen Kriegserlebnissen, doch was damals genau passiert ist, erfährt Leonore nicht. Auch Mutter und Tochter haben ihre Geheimnisse: Sie erzählen Henry nicht, dass Leonore in ein Jugendcamp in der DDR fährt. Er hätte das keinesfalls erlaubt. Leo lernt dort Clara kennen, die ein paar Jahre älter ist und ihr die Vorzüge des Sozialismus erklärt. Mit ihr pflegt sie eine Brieffreundschaft. Sie hört ihr wenigstens zu.

Auch in der Schule ist Leo eine Außenseiterin. Nach dem Umzug aufs Land fühlt sie sich noch mehr abgehängt. Dann lernt sie Ella und ihren Bruder kennen, der in der Altstadt von Osnabrück einen Jugendclub organisierte. Hier fühlt sich Leonore gut aufgehoben und beginnt, gegen ihre Mutter zu rebellieren.

Was folgt ist eine Reise durch die jüngere deutsche Geschichte. Nach einem Jahr in England, in dem sie die freie Liebe und diverse Drogen ausprobiert, geht Leo zum Studium nach Münster und kommt dort in den Siebzigern unfreiwillig mit Vertretern der RAF in Kontakt, was ihr noch lange nachhängen wird. Selbst später, als sie in Frankfurt lebt, wird sie sich nie sicher fühlen. Und dann lernt sie 1979 bei einem Besuch im Haus ihrer Eltern Gisela und deren knapp zweijährige Tochter Jana kennen. In Gisela meint Leo Clara wiederzuerkennen, doch sicher ist sie sich nicht. Als Gisela über Nacht verschwindet, nimmt sich Leonore der Kleinen an. Um sie zu adoptieren, muss sie ihren Freund Alexander heiraten und plötzlich hat sie eine kleine Familie, in deren Mittelpunkt Jana steht – und die Furcht, dass ihr sie jemand wieder wegnehmen könnte.

Auch Claras Geschichte greift Cora Stephan auf. Ihr parteitreues Leben in der DDR, ihren Auftrag im Westen, ihre Erfolge und ihre Zweifel. So verknüpft die Autorin über die Hauptfiguren und ihr Umfeld die Geschichte der Bundesrepublik und der DDR. Sie zeichnet vielschichtige Charaktere, die teils ganz bewusst, teils ohne jede Absicht in den Strudel der Ereignisse gezogen werden. Die Geschichte machen wollen oder sie „nur“ studieren. Zum Ende hin werden die Bögen der Handlung größer, die Details weniger, doch immer konnte ich dem Geschehen sehr gut folgen und meine eigenen Erinnerungen aufleben lassen. So ist „Margos Töchter“ genauso eine Familiengeschichte, die von der Sehnsucht nach Geborgenheit und Anerkennung, aber auch von verschiedenen Lebensentwürfen erzählt, wie eine spannende Geschichtsstunde, die Zusammenhänge, Spaltungen und ein gesellschaftliches Panorama von den 1960ern bis in die 90er aufzeigt. Letztendlich fließt alles ineinander. Geschichte ist ohne die Beteiligung der Einzelnen nicht denkbar.

Wer sich für die Geschichte von Janas Großmutter Margo interessiert, dem sei „Ab heute heiße ich Margo“ von Cora Stephan empfohlen. „Margos Töchter“ kann man auch unabhängig davon lesen und ich möchte es allen ans Herz legen, die sich für die neuere deutsche Geschichte und bewegende Familiengeschichten interessieren.

Cora Stephan: Margos Töchter.
Kiepenheuer&Witsch, April 2020.
392 Seiten, eBook, 16,99 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.

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