Eine defekte Bahnschranke in Temperley, Argentinien, teilt Marilés Leben in ein davor und danach. Wer die Schienen passiert, schaut zuerst zur Bahnhofsseite, die eine weite Sicht erlaubt. Auf der anderen Seite des Übergangs überblickt man 200 Meter der Schienenstrecke. Jeder überquert den Bahnübergang vorsichtig, erst recht wenn die Schranken unten sind und das Warnlicht blinkt. Alle wissen von der defekten Anlage. Nie ist etwas passiert. Als Marilé den anderen Fahrzeugen über die Schienen folgt, geschieht das Unglück. Mitten auf dem Bahnübergang versagt der Motor ihres Wagen, während ein Zug anrauscht. Auf der Rückbank sitzen ihr sechsjähriger Sohn und dessen Klassenkamerad. Leider kann sie nur ihren Sohn retten. Nach dem Unglück beginnt die Zeit der Anfeindungen, des Hasses. Als ihr Sohn ebenfalls ausgegrenzt wird, bekommt der Hass der Angehörigen des Opfers eine neue Dynamik, die Marilé einen hohen Preis abverlangt.
Die in Buenos Aires geborene Claudia Piñeiro hat sich im argentinischen Literaturbetrieb einen Namen gemacht. Sie schreibt nicht nur preisgekrönte Romane, Kinder- und Jugendbücher, Theaterstücke, sondern führt auch Regie für das Fernsehen.
In ihrem Roman »Ein wenig Glück« thematisiert sie die Opferbereitschaft einer Mutter, die selbst als Kind nie beschützt worden ist. Wie lebt es sich mit der Schuld, für den Tod eines Kindes verantwortlich zu sein und das eigene Kind auch nicht schützen zu können?
Psychologisch stimmig wird eine vom Schicksal gezeichnete Frau beschrieben, die immer mal wieder Glück im Unglück erfährt. Eingebettet in eine Rahmenhandlung stellt sich Marilé ihrer Verantwortung und erzählt im Hauptteil, wie schnell jemand schuldig wird. Manchmal verdient, manchmal unverdient oder eben beides. Der wunderbar anrührende Roman gibt dem Gemeinen dankenswerterweise nicht die Hauptrolle. Er zeigt stattdessen ein immer wieder aufblitzendes Glück, das ein Geschenk der Perspektive ist.
Claudia Piñeiro: Ein wenig Glück.
Unionsverlag, Juli 2016.
224 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.