Charles Pépin: Kleine Philosophie der Begegnung

Einige Begegnungen grenzen fast an Magie. Plötzlich glaubt man, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Man fühlt sich, als hätte man erst durch diese Person zu sich selbst gefunden.

In dem Sachbuch „Kleine Philosophie der Begegnung“ zeigt Charles Pépin, dass jeder zwischenmenschliche Kontakt nicht nur eine Begegnung mit der Welt, sondern auch eine Begegnung mit sich selbst ist. Der Schriftsteller, der Philosophie unterrichtet, entfaltet seine Argumentation anhand großer Denker des 20. Jahrhunderts, die sich mit zwischenmenschlichen Beziehungen und deren fundamentalen Bedingungen beschäftigt haben – von Aristoteles über Sigmund Freud, Martin Buber und Simone Weil bis hin zu Jean-Paul Sartre. Doch dabei bleibt es nicht: Pépin beleuchtet Begegnungen auch von der anderen Seite und entführt einen in die Welt derer, die bezaubernde Begegnungen in Szene gesetzt haben, also unter anderem Maler, Filmregisseure und Romanschriftsteller. Nicht zuletzt erzählt er von bekannten Werken, die ohne eine Begegnung nicht entstanden wären – spannende Geschichten und Details vorprogrammiert.

Essentiell für ein Sachbuch – vor allem für eines, das sich mit Philosophie beschäftigt – ist eine klare Struktur, die es einem erleichtert, dem Inhalt zu folgen. Das ist Pépin hervorragend gelungen. Gefolgt von einem Inhaltsverzeichnis und einer kurzen Einleitung unterteilt sich das Werk in drei Teile. Zuerst klärt Pépin darüber auf, was man unter einer wahrhaftigen Begegnung versteht. Dadurch wird eine solide Basis geschaffen, auf der Pépin folgende Erkenntnisse schlüssig aufbaut. Der zweite Teil beschäftigt sich damit, was die Bedingungen dafür sind, dass man einem Menschen begegnen kann. Zur Verdeutlichung verweist Pépin auf Situationen, in die man sich gut hineinversetzen kann und in denen man sich manchmal selbst wiederfindet. Der letzte Teil widmet sich dann der multiperspektivischen Skizzierung seiner Hauptthese – mithilfe von Autoren der Anthropologie bis hin zu Autoren der Psychoanalyse. In diesem Part verliert die Struktur an Klarheit, da auf viele gegensätzliche Positionen eingegangen wird. Stattdessen bieten die verschiedenen – teils kontroversen – Ansichten mehr Raum dafür, sich einen umfassenden Überblick über das Thema zu verschaffen und eine eigene Position zu entwickeln.

Was ebenfalls positiv auffällt, ist die Art und Weise, wie Pépin sich ausdrückt. Das Werk besteht aus zahlreichen wunderschönen, gar poetischen Erkenntnissen und metaphorischen Formulierungen, die es allein für sich wert sind, gelesen zu werden. Solche lebhaften Zitate enthält das Buch nahezu auf jeder Seite: „Wir müssen auf das zugehen, was nicht wir selbst ist, andernfalls können wir unmöglich wissen, wer wir sind. Ohne Begegnung mit dem Anderen ist eine Begegnung mit uns selbst unmöglich.“ (Zitat Seite 93). Gleichzeitig ist die Sprache nicht sonderlich anspruchsvoll, sodass das Buch sich sehr flüssig liest. Noch so komplexe Theorien werden kurz und knapp erklärt. Diese Mischung macht den Schreibstil Pépins besonders. An einigen Stellen werden Aspekte zwar wiederholt, jedoch dienen diese Wiederholungen ausschließlich der Betonung wichtiger Erkenntnisse.

Pépins Gedankengang ist zeitgemäß. Der Spagat zwischen veralteten Philosophien und den aktuell zunehmenden Begegnungen über soziale Medien und Dating-Apps gelingt ihm außerordentlich gut. Darüberhinaus thematisiert er Begegnungen unabhängig von Sexualität, Geschlecht und Religion. Erkennbar ist auch eine Gesellschaftskritik, ja sogar eine Epochenkritik, wie er es selbst nennt. Aktuelle Thematiken wie der Klimawandel und das Coronavirus werden hierbei nicht außen vor gelassen. Das macht das Sachbuch unglaublich facettenreich und damit weitaus nicht nur für Philosophie-Interessierte empfehlenswert. An wenigen Stellen werden Beispiele nicht differenziert genug ausgeführt, wodurch einige Behauptungen fast zu romantisch wirken. So ist es zum Beispiel fragwürdig, dass ein neuer Partner einen dazu verleitet, plötzlich Kinder zu wollen, obwohl man vor der Begegnung mit ihm keine Kinder wollte. Auch, dass man in einem Streit von dem persönlichen Standpunkt abweicht, weil man durch die Augen des Partners auf das Ganze blickt, wirkt etwas zu einseitig. Abgesehen von diesen Stellen fällt jedoch auf, dass häufig Faktoren berücksichtigt werden, die außerhalb der eigentlichen Betrachtungsebene liegen.

„Begegnungen stehen im Mittelpunkt des Abenteuers unseres Daseins.“ (Zitat Seite 12)

Wer sich von diesen Worten inspiriert fühlt und wissen möchte, was dahinter steckt, dem wird die „Kleine Philosophie der Begegnung“ reichliche Antworten geben. Das Werk ist nicht nur empfehlenswert für Philosophie-Begeisterte, sondern auch für Menschen, die ein Buch suchen, um sich der Philosophie anzunähern. Zugleich werden alle, die sich generell für zwischenmenschliche Kontakte interessieren und erfahren wollen, was man unter einer tatsächlichen Begegnung versteht, nicht enttäuscht sein. Des Weiteren liefert das Buch hilfreiche Ratschläge darüber, wie man sich selbst für echte Begegnungen zugänglich machen kann und welche Angewohnheiten einen davon abhalten. Die kritischen Fragen, die Pépin in den Raum wirft, regen nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Umdenken an. Insbesondere die Epochenkritik ist wahrlich eine Lektion, die den eigenen Horizont erweitert. Kurzum: Das Werk überrascht durch seine Vielschichtigkeit und bietet einfach alles, was das Herz begehrt und den Geist nährt.

Charles Pépin: Kleine Philosophie der Begegnung.
Aus dem Französischen übersetzt von Caroline Gutberlet.
Hanser Verlag, Januar 2022.
256 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Melina Lange.

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