Der Krankenschwester Julia passiert ein unverzeihlicher Fehler. Sie verwechselt zwei Patientinnen und verabreicht einer ein Medikament, gegen das diese allergisch ist. Die Frau kann gerettet werden, dieser Vorfall nimmt Julia aber endgültig die Luft. Sie hat ohnehin schon Lungenprobleme und bekommt heftige Atemnot. Ihr Arbeitgeber teilt ihr mit, ab ihrer Gesundschreibung ist sie entlassen. Sie ist 38 Jahre alt, nicht verheiratet, kinderlos, die Geliebte eines gebundenen Arztes, der zum dritten Mal Vater wird. Um vielleicht etwas „aufatmen“ zu können, zum „Durchatmen“ sozusagen, beschließt sie, in ihr Heimatdorf in den Bergen zurückzukehren. Aber statt Unterschlupf und Zuwendung zu finden, trifft sie dort auf zerstörte Strukturen. Ihre Mutter hat ihren Vater verlassen und ist zu einem anderen Mann nach Sizilien gezogen. Der Vater, verbittert und ohne sinnvolle Beschäftigung, raucht zu viel und kommt mit dem Haushalt alleine nicht zurecht. Betriebe und Geschäfte haben geschlossen, alleingelassene Männer verbringen ihr Leben kartenspielend im Wirtshaus.
Zustände, weitab von der Idylle, die Julia sich gewünscht hätte. Weil sie Krankenschwester ist, soll sie sich um eine unablässig schreiende Ziege kümmern. Der Tierarzt konnte keine Krankheiten feststellen. Auch Julia kann die Ziege nur bedingt beruhigen. Nach Wochen findet man hinter dem Wirtshaus in einem Verschlag einen Pferdekadaver. Die Ziege war die Gefährtin des Pferdes. Alle haben den Gestank des verwesenden Tieres gerochen, aber keiner hat nachgeschaut. Des Weiteren gibt es noch einen Bruder der Protagonistin, der als Kind an Hirnhautentzündung erkrankte. Der Betriebsarzt in der Fabrik, in der der Vater damals arbeitete, ein Alkoholiker, attestierte lediglich ein Fieber und der Vater untersagte der Mutter, mit dem Kind ins Krankenhaus zu gehen. Aus diesem Grund ist Julias Bruder David schwer behindert und in einem Sanatorium in der Nähe untergebracht.
Begenung mit einem „Städter“
Bedingt erfreulich in all dieser Tristesse gestaltet sich lediglich Julias Begegnung mit dem „Städter“, der sich auf Reha im Tal aufhält. Er hatte einen Herzinfarkt. Dieser Städter, Oskar Marin mit Namen, ist ein unverbesserlicher Optimist und ohne Anhang. Er verliebt sich in Julia, es gefällt ihm im Dorf und er beschließt dazubleiben und das Wirtshaus zu übernehmen.Der Wirt, ebenfalls Alkoholiker, hat das Wirtshaus beim Kartenspielen nämlich an ihn verloren. Julias Asthma verschwindet zusehends, aber es ziehen sich neue Schlingen in Form von Verantwortung um sie zu. Um es böse spoilernd vorwegzunehmen: Sie stellt sich keiner davon. Sie nimmt sich nicht des Vaters an, der nach einem Arbeitsunfall ihrer Hilfe bedürfte, sie schickt den beeinträchtigten Bruder, der eine Weile bei ihr gelebt hat, wieder zurück in seine Einrichtung, sie lässt Oskar und die Liebe sausen, um in der Stadt mit beinahe 40 Jahren eine Lehre als technische Zeichnerin anzufangen. Schließlich gibt die Mutter ihr Lebensglück in Sizilien auf, um den Vater zu pflegen.
Birgit Birnbacher gilt als große Nachwuchsautorin. Sie erzählt in einer erratisch anmutenden Sprache und in treffenden Bildern. Man kann diesem Buch seine literarische Qualität keinesfalls absprechen. Mir persönlich ist die Protagonistin allerdings fremd geblieben. Mich hat diese Geschichte nicht abgeholt. Ein weiteres pseudorealistisches Buch, in dem ein Bild von „Dorf“ gezeichnet wird, wie man es aus städtischer Perspektive gern sieht.
Birgit Birnbacher: Wovon wir leben.
Paul Zsolnay Verlag, Februar 2023.
189 Seiten, gebundene Ausgabe, 24,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Karina Luger.