Ein Schmöker, wie er im Buche steht. Ich habe den Roman binnen weniger Stunden verschlungen. Und hoffe jetzt sehr, dass der Autor schon an einer Fortsetzung schreibt. Denn die Geschichte schreit förmlich danach.
Andreas Izquierdo, Jahrgang 1968, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, darunter auch preisgekrönte. Seine letzten Bücher waren „Romeo und Romy“, eine herzerwärmende Geschichte, die ich sehr gemocht habe, und „Fräulein Hedy träumt vom Fliegen“.
Die Handlung von „Schatten der Welt“ setzt ein im Jahr 1910, dem Jahr, als der Halleysche Komet der Erde so bedrohlich nahe kam. Der Ich-Erzähler ist zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt, Carl Friedländer, einziger Sohn des jüdischen Schneiders in Thorn, eine Stadt in Westpreußen, an der Weichsel. Sein bester Freund ist Artur Burwitz, Sohn des cholerischen und geschäftsuntüchtigen Wagners.
Die beiden Jungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Artur ist muskulös, groß und breitschultrig, hat vor nichts und niemandem Angst und den Kopf voller Dummheiten. Carl ist ein sensibler, schüchterner und eher ängstlicher Junge, zurückhaltend und strebsam in der Schule.
Beider Familien sind arm und die Kinder müssen jeweils zu Hause mitarbeiten, d.h. auch Carl lernt die Schneiderei. Er tut das seinem Vater zuliebe, denn im Grunde weiß er, dass er diesen Beruf in Wahrheit gar nicht ergreifen will.
Die Dritte im Bunde wird schließlich die gleichaltrige Luise Beese, genannt Isi, ein unabhängiger Geist mit großem Freiheitsdrang, eine „freche Göre“, die nicht auf den Mund gefallen ist und sich nichts gefallen lässt. Weder von ihrem prügelnden Vater noch vom Polizeichef oder anderen Honoratioren der Stadt.
In den ersten beiden Teilen des Romans werden die Streiche und Unternehmungen der Drei immer abenteuerlicher und dreister, dabei aber auch gefährlicher, denn, angestiftet von Artur und befeuert von Isi, drehen sie auch schon mal „krumme Dinger“. Dabei gerät vor allem Isi immer wieder in Konflikt mit der Familie des Großgrundbesitzers Boysen. Mit der Zeit wird aus diesen Konflikten eine abgrundtiefe Feindschaft.
Der dritte Teil des Romans schildert die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus der Sicht dieser drei jungen Menschen, die ihn auf ganz unterschiedliche Arten erleben.
Ich fand den Roman unglaublich spannend, vor allem, da der Autor immer wieder sehr geschickt sogenannte Cliffhanger einbaut, so dass man die Seiten nicht schnell genug umblättern kann. Dabei ist das Buch keineswegs hohe Literatur, sondern vielmehr ein Roman voller Klischees und einer ausgeprägten Schwarz-Weiß-Malerei: die Reichen sind die Bösen, die Armen die Guten. Das passt hier aber durchaus und stört nicht, denn dadurch wirkt der Roman wie in der Zeit der Handlung geschrieben, war doch diese Art der Figurenzeichnung damals durchaus typischer als heute.
Die Charakterisierung der Protagonisten ist Andreas Izquierdo wunderbar gelungen. Artur und Isi sind beide starke Persönlichkeiten, die ihre Standpunkte vehement vertreten und für ihre Meinungen, ihre Rechte und ihre Freiheit vieles, sehr vieles auf sich nehmen. Dennoch ist die Distanz der Leserin zu den beiden Figuren größer, was aber der auktorialen Erzählweise geschuldet ist, die der Autor bei den Schilderungen ihrer Erlebnisse anwendet. Carl, der Ich-Erzähler, an dem Autor und dadurch Leserin viel näher dran sind, ist vielschichtiger. Er denkt lange über seine Handlungen nach, setzt sich mit den möglichen Folgen auseinander, ist manchmal verträumt und oft verzagt. Und er liebt, ja vergöttert geradezu seinen Vater, ein herzensguter, leicht versponnener Witwer, der am liebsten seinen Erinnerungen nachhängt.
Die Spannung leidet dabei überhaupt nicht unter den manchmal vorhersehbaren Aktionen der Protagonisten. Sie steigt vielmehr von Seite zu Seite, vom Jungenstreich über dubiose Geschäfte bis zu Schlacht und Kampf im Schützengraben. Die Figuren stolpern von einer Gefahr in die nächste und die Leserin fiebert mit ihnen ihrer Rettung entgegen. Wie es im Klappentext so treffend heißt: „Schatten der Welt“ ist Abenteuerroman, Coming-of-Age-Geschichte und spannender historischer Roman zugleich.
Das Buch endet nach dem Ersten Weltkrieg und es bleiben etliche lose Fäden, so dass, wie bereits gesagt, eine Fortsetzung unbedingt wünschenswert ist.
Andreas Izquierdo: Schatten der Welt.
DuMont Buchverlag, Juli 2020.
544 Seiten, Taschenbuch, 16,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Renate Müller.