Ali Smith: Es hätte mir genauso

Die schottische Autorin Ali Smith ist Meisterin darin, aus alltäglichen Situationen das Abgründige hervorzulocken, das sich bei näherer Betrachtung als erstaunlich realistisch entpuppen kann. Auch die in diesem Roman beschriebene Dinner-Situation entwickelt sich so abstrus wie (un-) möglich. Ein Mann verlässt die Tischrunde und schließt sich im Gästezimmer ein. Auf Tage, Wochen, Monate – ohne ein Wort der Begründung. Zunächst werden alte Freunde aktiviert, die ihn zum Herauskommen bewegen sollen, da Hausherrin Genevieve brachiale Polizeigewalt wie das Aufbrechen ihrer wertvollen Altbauvillatür aus dem 19. Jahrhundert ablehnt. Als jedoch Fernsehteams, Esoterik-Jünger und Friedensaktivisten die Nachbarschaft bevölkern, wittert die Gastgeberin plötzlich ganz neue Einkommensmöglichkeiten…

Wer ist dieser Miles Garth, der sich im Gästezimmer verbarrikadiert hat? Niemand scheint ihn richtig zu kennen. Um den mysteriösen Gast zu beleuchten, greift Ali Smith zu einem literarischen Kunstgriff: Sie lässt das Phantom Miles durch die Augen verschiedenster Protagonisten langsam Gestalt annehmen. Da ist eine Jugendfreundin, die ihn auf einer Reise durch Europa kennengelernt hat. Da ist eine verwirrte Frau im Altersheim, da die hochbegabte Nachbarstochter, welche ihm heimlich Zettel unter der Tür durchschiebt. Wie sich das Bild von Miles nach und nach schärft, ist faszinierend zu verfolgen. Plötzlich macht alles Sinn, die Puzzleteilchen fügen sich zusammen. Am Ende steht die Frage im Raum: Ist Miles verrückt – oder sind wir es?

Ein Dreh- und Angelpunkt des Romans ist der Verlauf der Dinner-Gesellschaft. Ali Smith hat diese meisterlich beschrieben. Wenn ein Ethikberater, ein Entwickler von Kampf-Drohnen, ein schwarzes Intellektuellenpaar und ein schwuler Künstlersohn, der mit dem Ehemann einer Geladenen eine heimliche Affäre unterhält, an einem Tisch sitzen, sind Konflikte vorprogrammiert. Kurz: Es könnte interessant werden!

Homophobie, Rassendiskriminierung und Hass auf all jene, die einen an die Grenzen des eigenen Geistes führen, brechen mit jedem Glas Wein immer mehr hervor. Verpackt in bitterböse, spitzfindige Dialoge lässt Ali Smith eine verbale Salve auf die Tischgesellschaft niederprasseln, die entlarvend und unterhaltsam zugleich ist. Ihre Charaktere sind überzeichnet, aber doch mitten aus dem Leben gegriffen. Alle sind so in ihre Selbstdarstellung vertieft, dass sie einander nicht zuhören. Wer kennt sie nicht, die Hardcore-Kapitalisten, die Modepüppchen, die Kunstversierten, die Instagram-Vorzeigefamilien der Vorstadt? Im weiteren Verlauf beschleicht uns Leser das Gefühl, dass wir ebenfalls an dieser Tafel sitzen könnten. Es hätte uns genauso…

Stilistisch unterhält der Roman auf anspruchsvolle Art. Durch ineinander verschachtelte Plot-Ebenen und kurze Abstecher in literarische Gattungen wie Kurzgeschichten oder Briefe, verfolgen wir die Personifizierung des Miles antichronologisch. Die Metaphern, welche den Plot durchziehen, werden gedreht, beleuchtet, aufgelöst. Ein eigenwilliger Charme durchzieht die Welt der vielfach ausgezeichneten Autorin. In Ali Smiths Büchern können sich Frauen in Bäume verlieben oder Menschen an einer Kunstallergie leiden. Fast ein wenig wie „Alice im Wunderland“, aber durchaus im Alltagswahnsinn verhaftet. Eindeutige Antworten serviert uns die Autorin nicht, die müssen wir schon selber finden. Am Ende stehen wir wieder am Anfang, nur klüger.

Fazit: So tiefgründig wie tiefschwarz. Wer englischen Humor liebt, sieht ihn im schottischen auf die Spitze getrieben. Meisterlich erzählt durch verschachtelte Perspektiven, offenbart sich ein hintersinniges Literaturvergnügen, das sowohl bestens unterhält, als auch zum Nachdenken anregt.

Ali Smith: Es hätte mir genauso.
btb Verlag, Dezember 2018.
320 Seiten, Taschenbuch, 10,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Diana Wieser.

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