Ein Leben ohne Jahreszeiten, ohne wirkliches Nachtdunkel, ohne die Geräusche der Welt, jedoch ein Leben im Fliegen – dafür hat sie sich entschieden, die namenlose ältere Frau, für welche Zugfahren wie Fliegen ist. Die Vergangenheit, die wegen Eigenbedarf gekündigte Mietwohnung, den Exmann, den Job, die Kindheit, in der sie vom Verschwinden träumte, hat sie hinter sich gelassen; ihre Freundin Lilo ist die letzte Verbindung zur Welt außerhalb von Zügen und Bahnhöfen. Die Bahncard 100 finanziert sie von Monat zu Monat mit Flaschensammeln, ihre Habe trägt sie in einer Sporttasche bei sich. Zu Beginn des Buches fährt sie in ihren zweiten Sommer. Sie hat sich eingerichtet in diesem ungewöhnlichen Leben, in dem sich die Route wöchentlich wiederholt wie in einem riesigen Kreisverkehr. Nackenprobleme vom vielen Sitzen versucht sie in leeren Abteilen wegzuturnen, sie ist peinlich auf Sauberkeit und passables Aussehen bedacht. Bei gesundheitlichen Problemen helfen die Mitbringsel eines Arztes, dem sie regelmäßig auf ihrer Tour begegnet. Dienstags teilt eine Bankerin mit ihr das Frühstück, freitags spielt sie Backgammon gegen einen Pendler. Denn ungesellig ist sie nicht. Nie würde sie sich aufdrängen, einem netten Gespräch geht sie aber nicht aus dem Weg. Mit der Zeit wurde sie zur Beobachterin und Menschenkennerin.
Bahnsteige machen sie unruhig und ihre Füße schwer. Wenn sie im fahrenden Zug sitzt, fühlt sie sich leicht, die Welt draußen fliegt an ihr vorbei. Sehnsuchtsvoll blickt sie auf einen Schwarm Gänse, der in Keilformation über den Himmel zieht; gerne flöge sie im längeren Schenkel des Keils mit. Ohne Sehnsucht schaut sie auf Städte, Häuser. Sie liest, bruchstückhaft werden Zeilen aus ihrem dicken gelben Buch, einer Sammlung romantischer Lyrik, zitiert und aktuelle Ereignisse aus liegengebliebenen Zeitungen erwähnt. Sie hängt Erinnerungen nach, spinnt Gedankenfäden, vermischt Realität und gedachte Welt. So reist sie einem Nicht-Ziel entgegen, dazu die Gedichtzeile von Novalis: „Abwärts wend ich mich“ (Zitat S. 118) – letzter Streckenabschnitt eines versehrten Lebens.
Der Erzählstil ist ein wenig gewöhnungsbedürftig; die Beobachtungen und Gedankenströme sind es jedoch wert, sich darauf einzulassen. „In so ein schönes Dämmern fiel sie oft, wenn sie lange aus dem Fenster blickte. […] Ging eins nahtlos ins andre über, kaum zu sagen, wo Hinausblicken aufhört und Hineinschauen anfängt.“ (Zitat S. 39)
Ein ganz besonderes Buch über den Stillstand in der Bewegung, gerne gelesen.
Albrecht Selge: Fliegen.
Rowohlt, Februar 2019.
176 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Ines Niederschuh.