Abdulrazak Gurnah (Jahrgang 1948) erhielt 2021 den Literatur-Nobelpreis. Geboren im Sultanat Sansibar (Afrika) ist er emeritierter Professor für englische und postkoloniale Literatur an der Universität von Kent (UK). Seine Bücher schreibt Gurnah in englischer Sprache.
Die Originalausgabe von „Das verlorene Paradies“ erschien schon 1994 unter dem Titel „Paradise“. Der Penguin Verlag veröffentlichte am 8. Dezember 2021 eine Neuauflage des Romans.
Abdulrazak Gurnah erzählt in „Das verlorene Paradies“ die Geschichte des Jungen Yusuf in Deutsch-Ostafrika, heute Tansania. Ende des 19. Jahrhunderts wird er mit zwölf Jahren von seinen Eltern dem Kaufmann und Händler Aziz als Pfand für nicht bezahlte Schulden des Vaters überlassen. Dieser nimmt Yusuf von Kawa mit in die Stadt am Meer. Für „Onkel Aziz“ arbeitet er fortan in einem kleinen Laden und im Garten von Aziz’ Haus. Der etwas ältere Khalil, der das gleiche Schicksal wie Yusuf erlitt, nimmt ihn unter seine Fittiche. Es ist die Zeit in Ostafrika, in der arabische und indische Männer die Handelsgeschäfte dominieren. Die Frauen versorgen Kinder und Haushalt. Doch auch die zukünftige deutsche Kolonialherrschaft wirft ihre Schatten voraus.
Yusuf leidet zunächst unter Heimweh und der Sehnsucht nach seiner Mutter und seinem Vater. Doch er ist auch neugierig auf das Leben in der Stadt. Mit Khalil unternimmt er Ausflüge in die Stadt. Sie gehen in die Moschee und an den Strand. Yusuf ist naiv und gutgläubig. Er wächst zu einem hübschen Jungen heran. Sowohl Mädchen, Frauen als auch Männer werfen begehrliche Blicke auf ihn.
Eines Tages soll Yusuf den Kaufmann Aziz auf einer Handelsreise ins Landesinnere begleiten. Aziz will große Geschäfte machen und leiht sich viel Geld bei den indischen Geldverleihern. Entsprechend gefährlich und lang wird die Expedition. Yusuf und die anderen sind Jahre unterwegs, erleben dramatische und brutale Situationen, werden krank, gefangen genommen oder sterben. Für Yusuf ist die Reise das endgültige Ende seiner Kindheit. Die Teilnehmer kehren erfolglos unter großen Strapazen zurück. Yusuf erlebt eine kurze erste Verliebtheit. Doch dann schliesst er sich einer Gruppe von afrikanischen Soldaten, den Askari, an, die unter den Deutschen dienen.
„Das verlorene Paradies“ führt in eine mir als Europäerin fremde Welt. Ost-Afrika am Ende des 19. Jahrhunderts, beschrieben von Abdulrazak Gurnah, der 1968 nach England flüchtete, zeigt sich multikulturell, religiös, abergläubisch, patriarchalisch, grausam und wild. Kinderarbeit ist normal. Frauen spielen eine untergeordnete Rolle. Männer machen die Geschäfte. Die Menschen haben ihre Mythen und Riten. Gurnah bezeichnet sie selbst als „Wilde“. Der Protagonist der Geschichte, der Junge Yusuf, wird als Zwölfjähriger von seiner Familie getrennt, er sieht sie nie wieder. Der vermeintliche Wohltäter der Familie „Onkel Aziz“ ist ein knallharter Geschäftsmann. Die Menschen in diesem Land sind arm und ihr Leben ist entbehrungsreich. Die Deutschen kommen und „hatten vor nichts Angst. Sie machten, was sie wollten, und niemand konnte sie daran hindern“ (S. 14). Das Land wird sich verändern, Traditionen verlieren ihren Wert. Das erleben die Teilnehmer der Handelsreise am eigenen Leib. So drastisch Gurnah diese Expedition beschreibt, so leicht und humorvoll kommen andere Passagen des Romans daher:
„Die Kunden lachten über alles, was Khalil tat, aber es schien ihn nicht zu bekümmern. Sie verspotteten ihn wegen seines Akzents, sie machten ihn nach und schütteten sich aus vor Lachen. Sein kleiner Bruder bringe ihm bei, besser zu sprechen, erklärte er ihnen. Und wenn er es gut genug könne, werde er sich eine dicke Mswahili-Frau nehmen und ein gottesfürchtiges Leben führen […]“ (S. 43).
Der Erzähler in „Das verlorene Paradies“ bewertet das Tun und Handeln der Figuren nicht. Weder die riskanten Geschäfte Aziz’ noch das brutale Vorgehen seines Vorarbeiters Mohammed Abdalla. Weder die gierigen Tauschgeschäfte der Sultane im Landesinneren, noch die prügelnden Europäer. Weder Kinderheirat, noch sexuelle Übergriffe. Weder Glaube, noch Aberglaube. Das und Abdulrazak Gurnahs unbekümmerter Erzählton machen die Lektüre des Romans für mich als Lesende zuweilen schwer erträglich. Allerdings führt das Lesen mir auch vor Augen, dass meine subjektive, weiße, christlich europäische Sicht auf Afrika und die ganze Welt nur eingeschränkt und einseitig ist.
Am Ende lässt Yusuf seine Kindheit und Aziz’ geheimnisvoll schönen Garten, „das verlorene Paradies“, hinter sich, um in eine für sich und sein Land unbekannte Zukunft zu marschieren.
Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies.
Aus dem Englischen übersetzt von .
Penguin, Dezember 2021.
336 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.