Zülfü Livaneli: Unruhe

Als in seiner Redaktion in Istanbul die Meldung eingeht, dass ein junger Türke namens Hüseyin Yilmaz im amerikanischen Jacksonville erstochen wurde, horcht der Journalist Ibrahim auf. Schnell wird klar: Es handelt sich tatsächlich um seinen Schulfreund, der dort durch Rassisten zu Tode kam. Ibrahim fährt zum ersten Mal sei Jahren in seine Heimatstadt Mardin, weit im Osten der Türkei an der syrischen Grenze, um die Hintergründe der Tat zu recherchieren und der Beerdigung beizuwohnen. Nachdem er die ersten Gefühle der Fremdheit überwunden hat, taucht er ein in eine Welt, die er fast vergessen hatte, die ihn aber mehr und mehr gefangen nimmt. Sein Leben in Istanbul erscheint ihm hier, „wo die Zeit rückwärts fließt“, wo Mythen noch lebendig sind und Aberglaube keine Seltenheit, als hektisch und sinnlos.

Er erinnert sich an Hüseyin als schmalen, schwachen Jungen, der allerdings im Koran-Unterricht der gelehrigste war. Von allen Verwandten und Freunden wird er als hilfsbereiter Mann geschildert, der sich mit seiner ganzen Kraft für Arme, Kranke und Unterdrückte eingesetzt hat. Zuletzt hatte er viel Zeit in den Flüchtlingslagern verbracht. Dort hatte er auch Meleknaz kennengelernt, für die er seine Verlobung löste und mit der er Hochzeitsvorbereitungen traf. Doch Meleknaz ist Jesidin und damit für Hüseyins Mutter, wie für viele andere, eine Teufelin, die ihren Sohn verhext und alles Unheil, das ihm geschah zu verantworten hat. Meleknaz ist in ihren Augen Schuld daran, dass Hüseyin von Islamisten angeschossen wurde, dass er die Familie durch die Auflösung seiner Verlobung brüskiert hat und dann nach Amerika zu seinen Brüdern fliehen musste, um sich in Sicherheit zu bringen.

Ibrahim ist fasziniert von den Erzählungen über Meleknaz, die kurz vor Hüseyins Abreise verschwand. Er beginnt ihren Spuren zu folgen und stößt dabei auf Lebensgeschichten voll unfassbarer Grausamkeit, die die Überlebenden – vor allem Frauen – in einem Zustand jenseits aller Gefühle zurücklassen. Meleknaz zu finden, wird für Ibrahim zur fixen Idee. Zeitweise zweifelt er an seinem Geisteszustand, fühlt sich zerrissen zwischen Ost und West, zwischen Orient und Europa.

Zülfü Livaneli, Komponist, Sänger, Filmemacher und einer der erfolgreichsten Autoren der Türkei, erzählt die Geschichte von Hüseyin, Meleknaz und Ibrahim aus wechselnden Perspektiven. Ibrahims Recherche ist im Buch dokumentiert: Die Berichte von Hüseyins Schwester, seinem Bruder, seinem alten Koran-Lehrer und einem seiner Freunde, die Gespräche mit einem jesidischen Scheich und einem aramäischen Priester, die Erzählung von Zilan, einer jungen Jesidin, über ihr grausames Schicksal in der Gefangenschaft und auf der Flucht ergeben ein vielstimmiges Bild der Ereignisse. Immer wieder reflektiert Ibrahim über seine Rolle in der Welt, seine Aufgabe als Journalist und als Mensch. So setzt sich Stück für Stück eine erschütternde und bewegende Geschichte zusammen, die bei Ibrahim in die Erkenntnis mündet, dass durch Mitleid die Pein nicht gelindert wird und dass er als Journalist das Sprachrohr der Vergessenen und Ungehörten ist.

Dieser schmale Roman hat es in sich, er rüttelt auf und zwingt zum Nachdenken über eigene Standpunkte und eigenes Handeln, über Fremdes und Vertrautes, über Vorurteile und Verständnis. In ihm steckt die Poesie und Märchenhaftigkeit des Orients genauso wie unbegreifliche Gewalt, Härte und Unrecht. Er öffnet die Augen und schenkt einen neuen Blick auf die politische und gesellschaftliche Situation in der Türkei. Wer sich dafür interessiert oder einfach ein richtig gutes Buch lesen möchte, dem sei „Unruhe“ wärmstens empfohlen.

Zülfü Livaneli: Unruhe.
Klett-Cotta, Juli 2018.
168 Seiten, Gebundene Ausgabe, 18,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.

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