Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

Die achtzehnjährige Annie Duchesne kann es kaum erwarten, ihrem behüteten Elternhaus zu entfliehen, um in ihren Ferien als Betreuerin in einer Ferienkolonie zu arbeiten. Zuvor hat Annie ihr Dorf nie verlassen. Ihre Eltern, die einen Krämerladen führen, verwöhnten ihr einziges Kind, das zu Hause nie etwas arbeiten musste, stets. Im Gegenzug fehlt dem Mädchen der Blick über den Tellerrand in das Leben, wie es um sie herum stattfindet und in andere Milieus hinein. Sie kann nicht mit einem Telefon umgehen, hat noch nie geduscht oder gebadet, weil in ihrem bäuerlich-katholisch geprägten Zuhause einfach andere Gepflogenheiten und Gegebenheiten üblich sind. Alles, was sie über die Welt weiß, hat sie sich aus Büchern angelesen. Überhaupt ist Annie ein überdurchschnittlich intelligentes Mädchen, das sich von ihrer einfachen Familie abhebt. Nun aber will sie endlich einen Jungen kennenlernen und sich verlieben. – Genau dies passiert dann auch.

Zumindest redet Annie sich geradezu obsessiv ein, in den jungen Lehrer H. verliebt zu sein. Tatsächlich aber findet H. in Annie lediglich ein gefügiges Opfer seiner sexuellen Bedürfnisse.  Annie, die bislang keine Kontakte zu Jungen hatte, unterwirft sich in ihrer Unerfahrenheit H., der sie nur benutzt, wodurch sie sich zum Gespött der anderen macht. Als H. sich von ihre abwendet, versuchen andere Betreuer sexuelle Kontakte zu Annie zu knüpfen. Erst später bereut Annie ihr leichtfertiges Verhalten und wird ihre Verstörung hierüber und ihre Scham nicht mehr los. Doch wie und woher hätte sie es besser wissen können? – Diesen Teil ihres Ichs, ihr Verhalten, wie sie es damals, 1958 ausgelebt hat, hat sich in Annies Seele eingebrannt. Am liebsten möchte sie das Vorkommnis ungeschehen machen und hinter sich lassen, nachdem sie sich ihrer eigenen Wertigkeit bewusst wird. – Wie viel einfacher hätte Annie alles sehen können, wenn alles zehn Jahre später passiert wäre, als mit der 68er-Revolution die sexuelle Freiheit kam. So braucht Annie Ernaux über 55 Jahre, um sich ihrer einstigen Verfehlung, die ihr gesamtes weiteres Leben nachhaltig geprägt hat, stellen zu können. In Tagebucheinträgen schreibt sie von „dem Mädchen“, als berichte sie über eine fremde Person. Nur durch die Aufspaltung von „sie“, dem Mädchen von 1958, und „ich“, der Frau von 2014, gelingt es der Autorin, über die Ereignisse und Handlungen von damals eine objektive Erzählhaltung einnehmen zu können. Aber wozu schreibt man, wenn nicht dazu, Dinge hervorzuholen, und sei es nur ein einziges Ding, das sich allen psychologischen und soziologischen Erklärungsversuchen widersetzt, das sich weder aus einer vorgefassten Meinung noch aus einer Schlussfolgerung ergibt, sondern aus der Erzählung, etwas, das aus den aufgeschlagenen Falten der Erzählung zum Vorschein kommt und helfen kann zu verstehen und zu ertragen -, was passiert und was man tut. (S. 103)

Annie gelingt es in der Folgezeit nicht, vorbehaltlos glücklich sein zu können, vielmehr durchleidet sie die Jahre eher und je mehr sie sich weiterbildet und sich mit Simone de Beauvoir und  Philosophen wie Descartes und Kant befasst, desto mehr verurteilt sie das Mädchen von 1958.

Am Ende erscheint mit der Auseinandersetzung der Ereignisse alles einst Geschehene und Verstörende endlich weit weg. Die Wucht des einstigen beunruhigenden Empfindens ist gemildert.

Mit ihrer psychologischer Selbstbetrachtung sticht Annie Ernaux ohne Tabus in eigene Wunden und zeichnet gleichzeitig ein Bild der Gesellschaft und vorherrschenden Moral aus den fünfziger Jahren auf. Eine mutige, sprachlich überzeugende autobiografische Aufarbeitung.

Annie Ernaux ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen der Gegenwart und bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Bücher wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet.

Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens.
Suhrkamp Verlag, Oktober 2018.
163 Seiten, Gebundene Ausgabe, 20,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Annegret Glock.

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Ein Kommentar zu “Annie Ernaux: Erinnerung eines Mädchens

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