30. Januar 1933: Adolf Hitler wird in Berlin zum Reichskanzler ernannt. Die Menschen leben in einer Zeit, in der viele „den Beginn einer besseren Zukunft, manche aber den Anfang eines vielleicht schrecklichen Endes erblickten.“ Doch an diesem Tag interessiert in Fallersleben, einem Dorf im Wolfsburger Land, niemanden die große Politik, denn der „Zuckerbaron“ Hermann Ising feiert das Richtfest seines neuen Hauses. Ising ist als Ortsgruppenleiter und großer Arbeitgeber ein bedeutender Mann in der Gegend. Deshalb strömen nicht nur die Einwohner der umliegenden Dörfer herbei – schließlich verspricht das Fest „Freibier und Essen bis zum Platzen“ –, sondern auch die lokale Prominenz ist gut vertreten.
Auch die erwachsenen Ising-Kinder lassen sich die Feier nicht entgehen: Edda, die in Göttingen Romanistik studiert, Medizin-Studentin Charlotte – genannt Charly -, Horst, bei dem es als einzigem unter den Geschwistern nur für die Mittelschule gereicht hat und der in der väterlichen Zuckerfabrik mit anpackt und zuletzt Georg, Ingenieur und Autonarr. Und dann ist da noch der Nachzügler Willy, erst ein paar Monate alt und ein Sonnenschein, wie er im Buche steht.
Berlin scheint weit entfernt von dieser dörflichen Idylle, doch die großen Umwälzungen, die Deutschland bevorstehen sind bald in Fallersleben nicht mehr zu übersehen und haben Konsequenzen für die Isings und darüber hinaus.
Horst strebt eine Karriere in der NSDAP an. Dabei kommen ihm immer wieder seine Angehörigen in die Quere und mehr als einmal steht er vor der Entscheidung, was ihm wichtiger ist: Familie oder Partei. Charlys Freund Benny ist Jude, Eddas Freund Ernst ist Kommunist und auch der Vater kann sich trotz seiner Funktion als Ortsgruppenleiter nicht so recht mit den nationssozialistischen Werten anfreunden. Mehr und mehr wird deutlich, wie sehr sich die Einstellungen und Lebensentwürfe der Familienmitglieder unterscheiden. Die Mutter Dorothee ist häufig Vermittlerin und versucht, die Familie zusammenzuhalten, doch das gelingt nicht immer. Manchmal sucht sie, genau wie ihre Kinder, Rat und Hilfe bei ihrem Bruder Carl, der als hochgeschätzter Jurist in Berlin ganz nah an der Zentrale der Macht sitzt und das ein oder andere Problem – zumindest zeitweise – aus der Welt schaffen kann. Doch auch Carl hat seine Geheimnisse und kann nicht immer, wie er will.
Der international erfolgreiche Autor Peter Prange schlägt in seinem neuesten Roman einen Bogen von 1933 bis 1939 und begleitet in dieser Zeit das Leben der Familie Ising, ihrer Verwandten und Bekannten. Geschickt verknüpft er die Zeitgeschichte mit den persönlichen Geschichten der Figuren. Dabei schafft er es, ihnen ein Höchstmaß an Individualität mitzugeben, tief in ihre Seele einzudringen und ihr Zerrissenheit zu schildern. Denn einfach ist in dieser Zeit nur wenig. Entscheidungen können Leben retten, zerstören, verkürzen, verlängern oder beenden. Wir lernen fanatische Nationalsozialisten kennen, Mitläufer, Profiteure, Gegner des Regimes, Widerständler, Gewinner und Verlierer und alles, was dazwischen liegt. Es scheint, als wäre diese Familie und ihr Umfeld ein Abbild der damaligen deutschen Gesellschaft im Kleinen. Die Themen, die sie umtreiben sind bis heute aktuell: Hass und Verachtung für Menschen mit anderem Glauben oder anderen Ideologien, „unwertes“ Leben, Unterdrückung und Schikane, Ungerechtigkeit und Ungleichheit.
„Wie hätte ich mich verhalten? Was hätte ich getan? Welcher Mensch wäre in jener Zeit aus mir geworden?“ Diese Fragen hat sich Peter Prange schon als Jugendlicher gestellt und sein Roman ist für ihn „ein Versuch, mir zumindest eine Vorstellung davon zu machen“.
Dieser Versuch ist ihm großartig gelungen. Seine mitreißend und differenziert erzählte Geschichte berührt und bewegt. Gleichzeitig bringt „Eine Familie in Deutschland“ alles mit, was einen Roman spannend macht: Intrigen, Verrat, Politik, Liebe, Freundschaft, Verzweiflung, Gewalt und Tod. Sie ist auf eine Fortsetzung angelegt, die im Herbst 2019 erscheinen soll. Ich freue mich schon darauf und kann Teil eins nur wärmstens empfehlen.
Peter Prange: Eine Familie in Deutschland: Zeit zu hoffen, Zeit zu leben.
Scherz, Oktober 2018.
672 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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