Es beginnt mit dem Gedanken an Flucht und den Fragen, die sich der (zunächst) namenlose Erzähler immer wieder stellt: Wo bin ich? Wie kam ich hierher? Warum bin ich hier? Und vor allem: Wer bin ich? (Seite 9).
Er ist gefangen in einem unübersichtlichen, labyrinthartigen Schloss, das auf einer Insel in einem See liegt und von einem Ungeheuer bedroht wird, das nur durch Licht in Schach gehalten werden kann. Um seine Zeit sinnvoll zu nutzen, arbeitet er – vor allem unterstützt von seinen Assistenten Aron und Nora – in der Lichtwerkstatt an der Entwicklung einer riesigen Glühbirne, die die Umgebung auch bei Nacht permanent erhellen soll.
Im Schloss herrscht eine strenge Hierarchie. Der König und die Ritter haben das Sagen, die Wachen und die Hofdamen führen ihre Befehle aus und geben sie an die gefangenen Arbeiter weiter. Das Ganze wirkt (obwohl es schon Elektrizität gibt) wie eine Welt aus einer fernen Zeit. Auch im angrenzenden Wald treiben sich von Einhörnern über sprechende Schneemänner bis zur bösen Hexe allerhand märchenhafte Gestalten herum. Und immer scheint es Winter zu sein.
Als dem Protagonisten ein Zauberstab in die Hände fällt und er von Aron einen Schlüssel erhält, der ihm unbekannte Gänge durch das Schloss öffnet, nimmt der Fluchtplan Gestalt an. Doch das Ziel bleibt unklar. Er schafft es zwar, dem Märchenschloss zu entkommen, landet jedoch in einer neuen Welt, die ihm noch unwirklicher erscheint. Was ist virtuell, was real? Und wie gelingt es ihm, sich zu erinnern? Die Reise geht weiter.
Am Ende steht er vor einer Wahl und muss sich für eine der möglichen Welten entscheiden.
Matthias A. K. Zimmermann war bisher eher als Maler und Medienkünstler bekannt. Nun hat er seinen ersten Roman vorgelegt, der dieselben Themen aufgreift wie sein bisheriges Werk. Er arbeitet stark mit mittelalterlichen, asiatischen und digitalen Symbolen und verknüpft sie mit virtuellen Räumen. Die Hauptfigur kämpft sich, wie in einem Computerspiel, Level für Level zurück zu ihren Erinnerungen, muss dabei Aufgaben erfüllen, Rätsel lösen und schwebt in ständiger Gefahr. Die Nebenfiguren sind eher archetypisch und flach gehalten. Sie spielen ihre festgelegten Rollen, dienen nur dem Fortgang der Handlung und der Selbstfindung des Protagonisten. Auch der Zufall (oder die Vorsehung?) ist ein fester Bestandteil der Geschichte: Ab und zu tauchen Hinweise oder Requisiten genau in dem Moment auf, in dem sie dringend gebraucht werden.
Die Zeit scheint nicht linear zu verlaufen. Die zeitlichen und räumlichen Ebenen verschwimmen, fließen ineinander und überlagern sich. Nichts ist so, wie es zunächst scheint.
Der Aufbau und die Ideen des Romans sind außergewöhnlich und spannend. Auch als Leserin habe ich mich ständig gefragt, was jetzt „Wirklichkeit“ ist und was sich der Erzähler nur „zusammenspinnt“. Immer wieder hat sich auch ein klaustrophobisches Gefühl eingeschlichen. Die Fragen nach den Möglichkeiten und Gefahren der Virtualität, nach der Wahrheit der eigenen Erinnerungen und dem Gefangensein im Denken und in den Gewohnheiten, die der Text aufwirft, sind sehr philosophisch und haben keine einfachen Antworten. Jede*r ist aufgefordert, hier selbst den Kopf anzustrengen. Manchmal hat mir persönlich der Text sogar zu viel erklärt, wenn der Erzähler nach einem Aha-Erlebnis die Vorgänge Revue passieren lässt. Die Geschichte ist meist so angelegt, dass man auch selbst, ohne weitere Erklärung, die Zusammenhänge erkennen kann.
Zimmermann spielt mit Worten, Gedanken und Technologien. Er lotet in seiner Geschichte Möglichkeiten aus und macht deutlich, dass es keine allgemeingültigen Wahrheiten gibt. Sprachlich gibt es allerdings meiner Meinung nach noch Luft nach oben. Manche Formulierungen wirken auf mich etwas ungelenk.
Dennoch ist Matthias A. K. Zimmermann ein mitreißender Roman gelungen, der Leserinnen und Leser jeden Alters bestens unterhalten kann und gleichzeitig zum Nachdenken anregt. Denn die Digitalisierung und die damit verbundene Frage der Realität bzw. des Realitätsverlustes durchziehen in der Zwischenzeit unser komplettes Leben.
Matthias A. K. Zimmermann: KRYONIUM. Die Experimente der Erinnerung.
Kulturverlag Kadmos Berlin, Oktober 2019.
324 Seiten, Gebundene Ausgabe, 19,90 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.
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