Schon früh begreift Gaspar, dass das Zusammenleben mit seinem Vater Juan besonders ist. Sie wohnen allein in einer vernachlässigten leeren Villa. Obwohl Juan keiner geregelten Arbeit nachgeht, haben sie stets genug Geld, und Juan erhält häufig medizinische Hilfe in einer Privatklinik. Mit der Zeit lernt Gaspar, mit der Angst um das Leben seines Vaters zu leben. Doch was geschieht mit ihm, wenn die Ärzte seinem Vater nicht mehr helfen können?
Aus irgendeinem Grund hat Gaspar zu der Familie seiner verstorbenen Mutter keinen Kontakt, und der Bruder seines Vaters soll irgendwo im Ausland leben. Gaspars brüchige Erinnerungen will der schweigsame Juan nicht klären. Auch wenn sie sich echt anfühlen, sollen sie nur schlechte Träume sein.
Und während Juan von Jahr zu Jahr immer kränker und gewalttätiger wird, vergisst Gaspar seine Erinnerungen. Sie verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Dafür beherrscht sein Vater seine Gedanken. Er lässt ihn glauben, Gaspar sei ein ganz normaler Junge. Dass er von seinem Vater außergewöhnliche Talente geerbt hat, bleibt für Gaspar lange ein vager Verdacht.
2019 erhielt Mariana Enriquez für ihre Vater-Sohn-Geschichte den Premio Herralde, einen der wichtigsten Preise für spanische Literatur. 2021 stand ihr Buch auf der Shortlist des Booker Prize.
Die Autorin erzählt von Juan, Rosario und Gaspar, die in zwei totalitären Systemen leben, und zwar in dem von Argentinien der 1980er Jahre und in dem von Rosarios reicher Familie. Die Journalistin Olga recherchiert, dass diese Familie wie ein Land im Land sei (S. 627). Denn der Clan verfügt über politischen Einfluss, besitzt zahlreiche Ländereien und Immobilien, die von eigenen Sicherheitskräften und einer unüberschaubar großen Gruppe von Anhängern beschützt wird.
Juans Arzt gehört ebenfalls zu diesem Familienclan. Schon früh wird er von seinem Vater mit der Suche nach einem Medium beauftragt. Er sei nicht der Einzige, der sucht, denn es gäbe noch andere Schattenkulte mit verschiedenen Deutungen und Praktiken. Nach einem erfolgreichen Ritual mit Juan als Medium erkennt der Arzt, dass der Orden seiner Familie viel mehr als nur ein Club sein kann. Er sieht Dinge, die ihm den Schlaf rauben.
In dieses Gefüge aus skrupellosem Machtmissbrauch und Okkultismus wird die Leserin, der Leser hineingeworfen. Manche Szenen sind extrem grausam und gruselig beschrieben, um die unmenschlichen Systeme in ihrer ganzen Wucht zu zeigen. Aus verschiedenen Perspektiven erzählt die Autorin, wie eine Familie reich und mächtig geworden ist und wie Juan versucht, für Gaspar eine Zukunft in Freiheit zu finden.
Die Lektüre entwickelt sich zu einer Reise in die Dunkelheit, die teilweise nichts für schwache Nerven ist. Mariana Enriquez spannt einen weiten Erzählbogen und seziert dabei eine geheimnisvolle, dunkle Familientradition, die zu einer aufwühlenden und spannenden Lesereise geworden ist. Und am Ende dieser umfangreichen Lektüre bleibt noch immer eine Neugier. Es scheint, als sollte die Geschichte von Gaspar noch weitergehen. Vielleicht ist dies auch nur der Wunsch, über das Ende hinaus weiterlesen zu wollen.
Mariana Enriquez: Unser Teil der Nacht.
Aus dem Spanischen übersetzt von Silke Kleemann & Inka Marter.
Tropen, Februar 2022.
832 Seiten, Gebundene Ausgabe, 28,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.