Die Autorin Maren Wurster (Jahrgang 1976) hat nach „Das Fell“ (2017) und „Papa stirbt, Mama auch“ (2021) ihr drittes Buch mit dem Titel „Eine beiläufige Entscheidung“ geschrieben. Es erschien am 22. August 2022 bei Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag.
Lena hat ein Baby bekommen. Konrad, der kleine Junge, ist ein unzufriedenes, schreiendes kleines Kind. Lena ist überfordert. Robert, der Vater des Kindes, ist keine Hilfe. Lena beschließt, ihr Baby zu verlassen und flüchtet sich in die Hütte von Roberts Eltern. Dort versteckt sie sich im Wandschrank und wartet darauf, dass ihr Milchfluss versiegt. Sie phantasiert fiebrig.
Konrad lebt in einem Internat für verhaltensauffällige Kinder. Er ist wütend, selbstzerstörerisch und einsam. Nur Una, sein ehemaliges Kindermädchen, und der Mitschüler Kaspar haben einen Zugang zu ihm. Sein Vater Robert lässt sich hin und wieder blicken. Konrad entdeckt seine Fähigkeit, mit Holz zu arbeiten und hat eine erste sexuelle Erfahrung mit Kaspar. Doch Kaspar verlässt das Internat, und Robert geht mit seiner Freundin ins Ausland. Dann geschieht ein „Unfall“ mit einer Kettensäge.
Maren Wurster erzählt zwei Geschichten, die aufeinander zulaufen und sich in der Hütte am See treffen. Das Buch ist in zwei Abschnitte geteilt, als Lesende muss ich es umdrehen. So kann ich es von beiden Seiten aus lesen. Ich habe mit der Lena-Geschichte begonnen. Hier erzählt Wurster in der auktorialen Form. In Rückblenden gewährt sie Einblicke in Lenas Leben vor ihrer Flucht von Kind und Freund. Sie eskaliert Figur und Geschichte bis zu dem Punkt, an dem Lena Holzarbeiten im Schuppen der Hütte entdeckt, darunter zwei aneinander liegende Pyramiden. Immer wieder begegnet sie einem jungen Mann. Das scheint ihr Hoffnung zu geben und irgendwann verlässt sie die Hütte und bricht auf.
Ich drehe das Buch herum und lese von Konrad als Ich-Erzähler. Konrad hat das mütterliche Verlassenwerden psychisch krank gemacht. Er ist das Opfer einer dysfunktionalen Familie. Im Arbeiten mit Holz kann er seine Wut, seine Verzweiflung und seine Trauer kanalisieren. Und er hat Una und Kaspar. Lena hat niemanden.
Maren Wurster beschreibt den Schmerz der beiden Hauptfiguren direkt und drastisch. Trotzdem bleibt mir die Mutter-Sohn-Beziehung rätselhaft, die Sprünge in den Zeitebenen verwirren mich. Wie kann Lena, die Konrad gerade noch gestillt hat, auf die Holzarbeiten ihres schon erwachsenen Sohnes stoßen? Merkwürdig.
Maren Wurster läßt mich als Lesende allein mit einer Deutung, aber mit vielen Fragen zurück. Weder Lenas noch Konrads Geschichte gehen mir wirklich zu Herzen, zu distanziert bleibt Wursters Ton, zu (möglicherweise anspruchsvoll) verschachtelt die Zeit, zu zynisch der Titel. Und was ist eigentlich mit dem Vater? Robert kümmert sich weder um Lena noch um Konrad. Doch sein Anteil an der Überforderung der Mutter und der Einsamkeit des Kindes bleibt von Wurster unerzählt. Konrads Wut, Trauer und Verzweiflung richten sich fast ausschliesslich auf die geflüchtete Lena. Der emotional und auch tatsächlich abwesende Vater Robert bekommt nur einen geringen Teil der kindlichen Aggressionen ab, obwohl er die Erziehung und Betreuung seines Kindes an Kindermädchen und Internat auslagert.
„»Du hast mich«, sagt Robert irgendwann mal, »das reicht.«“ (S. 9)
Nein, das reicht nicht.
Maren Wurster hat sich mit „Eine beiläufige Entscheidung“ an ein heikles Thema gewagt: die Überforderung von Müttern (und auch Vätern) und die Folgen für Eltern und die Kinder. Nur nimmt Wurster ihrer Geschichte selbst die ihr innewohnende Wucht durch ein zu viel an Verschachtelung und Rätselhaftigkeit. Schade!
Maren Wurster: Eine beiläufige Entscheidung.
Hanser Berlin, August 2022.
160 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.