Ohne dass Leila Tess jemals getroffen hat, willigt sie ein, deren Leben zu übernehmen. Tess leidet unter einer bipolaren Störung und möchte ihrem Leben ein Ende setzen, ihre Angehörigen und Freunde allerdings nicht vor den Kopf stoßen. Deshalb engagiert sie Leila, die nach ihrem Selbstmord Tess Identität im Internet weiterführen soll. Anfangs scheint Leila dies auf die leichte Schulter zu nehmen, doch schon vor Tess‘ Abgang wird ihr klar, dass sie einen Full-Time-Job übernommen hat. Sie muss möglichst viele Details über Tess wissen, bis diese geht. Auch mitten in der Aufgabe selbst kommen ihr Zweifel: Wer sind all die fremden Menschen, die Tess schreiben, von ihr allerdings niemals erwähnt wurden? Und … ist Tess überhaupt gestorben? Leila macht sich auf die Suche nach Antworten.
„Ich bin Tess“ behandelt viele Konfliktthemen und ethische Aspekte teils am Rande, teils etwas tiefergehend. Leila ist Mitglied in einem Internetforum, das sich täglich mit ethischen Fragen auseinandersetzt. Hier lernt sie über den Administrator auch Tess kennen. Erst wechseln sie nur Emails, dann skypen sie. Später hat Tess dabei auch die Kamera an, Leila allerdings niemals. Um nicht emotional zu sehr eingebunden zu werden. Doch das ist Leila längst. Ihr eigenes Leben ist ihr wenig Wert und manchmal fragt man sich als Leserin oder Leser, ob nicht sie diejenige sein sollte, die ihr Leben aufgeben sollte. Denn Tess wirkt von außen oft wie eine lebenslustige, beliebte Frau. Leila hingegen ist abgekapselt von ihrer Außenwelt und hat sich seit dem Tod ihrer Mutter in ihr kleines Apartment zurückgezogen, das sie bestenfalls verlässt, um Nahrungsmittel einzukaufen. Das macht es im Roman auch oft schwer, sich mit ihr zu identifizieren oder sie auch nur am Rande zu mögen. Ein sehr eigensinniges junges Mädchen, zurückgezogen und losgelöst von der Welt und ihren Geschehnissen.
Spannend ist an diesem Roman vor allem Leilas Suche nach Tess. Diese bezeichnet die Gegenwart, aus der heraus Leila die Geschichte erzählt. Etwa ein Jahr nach Tess‘ Tod macht sie sich auf die Suche nach Spuren der anderen Frau. Rückblickend erzählt sie immer wieder von ihrem Projekt. Was sie dabei unternommen hat, ist oftmals faszinierend. Zum Schein zieht Tess Identität ins ferne Kanada, auf ein Fleckchen Land, das sich nur schwer erreichen lässt. Dort plant Leila ihr komplettes neues Leben: eine Wohnung, einen Job, Unternehmungen am Wochenende. Über diese berichtet sie bei Facebook oder via Email, ganz im Schreibstil des Originals, so dass sie lange Zeit vorgeben kann, tatsächlich Tess zu sein.
Leicht zu lesen ist „Ich bin Tess“ aber keinesfalls. Manchmal sind die Ausflüge in die Vergangenheit doch sehr ermüdend, oftmals passiert in einem Kapitel nicht wirklich viel. Wovon das Buch allerdings lebt, ist seine aktuelle Brisanz. Virtuelle Identitäten sind heute wichtiger denn je. Gerade die junge Generation definiert sich über Plattformen wie Facebook. Wie leicht diese zu manipulieren sind, zeigt die Autorin. „Ich bin Tess“ sei trotz seiner zahlreichen Längen all jenen interessierten jungen Erwachsenen ans Herz gelegt!
Lottie Moggach: Ich bin Tess.
script 5, Februar 2014.
349 Seiten, Gebundene Ausgabe, 17,95 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Janine Gimbel.