Karine Tuil: Menschliche Dinge

Was passiert, wenn die Welt der Reichen, Schönen und Erfolgreichen plötzlich Risse bekommt, das seziert die 1972 geborene französische Autorin Karine Tuil aufs Allerfeinste.

In ihrem sehr lesenswerten Roman „Menschliche Dinge“ sieht sich der Elitestudent Alexandre Farel plötzlich mit einem Vergewaltigungsvorwurf konfrontiert. Er stammt aus einem priviligierten Elternhaus, in dem der berufliche Erfolg über allem steht. Sein Vater ist der egoistische und skrupellose Fernsehmoderator Jean, der sich mit deutlich jüngeren Geliebten vergnügt und für den beruflichen Erfolg über die sprichwörtlichen Leichen geht. Seine Mutter ist die erfolgreiche feministische Sachbuch-Autorin Claire. Auch diese beiden Figuren und ihr (verkorkstes) Liebesleben spielen eine zentrale Rolle im Roman.

Dann läuft eine Party, bei der Drogen und Alkohol im Spiel sind, aus dem Ruder. Alexandre bedrängt die völlig unerfahrene Mila sexuell, die aus einem streng gläubigen jüdischen Elternhaus stammt. Sie ist völlig verzweifelt und erstattet Anzeige.

​Einen Großteil des Buches nimmt der nun folgende Gerichtsprozess ein, und ein großer Verdienst der Autorin ist, dass sie keinesfalls klar Stellung bezieht. Beide Varianten des verkorksten Abends scheinen glaubwürdig – „es gibt zwei Wahrheiten“ heißt es irgendwo im Buch -, und so ist der Leser hin- und hergerissen, ob er sich auf die Seite des eloquenten, weltgewandten und intelligenten Jünglings oder der schüchternen, unscheinbaren und etwas verklemmt wirkenden jungen Frau schlagen soll.

Natürlich ist der Roman vor dem Hintergrund der MeToo-Bewegung entstanden, und er beleuchtet ihre zwei Seiten: einerseits die lange notwendige Thematisierung und Verurteilung von sexualisierter Gewalt gegen Frauen, andererseits aber womöglich auch ihre Auswüchse in Form von Stigmatisierung und vorschnellen Urteilen gegen manche Männer.

Zuweilen erinnert dieser Roman an einen großen Vorgänger: „Fegefeuer der Eitelkeiten“ von Tom Wolfe. In beiden Texten gelingt den Autoren ein äußerst glaubwürdiges Porträt der so genannten „High Society“ und den wenig schmeichelhaften Tricks, wie sie ihre (Schein-)Welten nach außen hin aufrecht erhalten.

​Karine Tuil wurde zu diesem Roman vom „Fall Stanford“ inspiriert. Im Januar 2015 hat ein Elitestudent der Stanford-Universität eine bewusstlose Frau hinter einem Müllcontainer missbraucht. Die Autorin ist für diesen Roman mit dem „Prix Goncourt des Lyceens“ und und dem „Prix Interallié“ ausgezeichnet worden.

Karine Tuil: Menschliche Dinge.
Claassen, August 2020.
384 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.

Diese Rezension wurde verfasst von Andreas Schröter.

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