Fünfzehn lange Jahre ist Zelda der Verarbeitung eines traumatischen Erlebnisses aus dem Weg gegangen. Mit der Zeit hat sie sich mit dem Nicht-daran-Denken-wollen arrangiert, bis sie von ihrem ältesten Sohn Philip Informationen erhält, die sie zwingen, sich zu erinnern.
Zelda erinnert sich unter anderem an die erschreckenden Begleitumstände ihrer Hochzeit und die neue Perspektive. Sie denkt auch an die wenigen Monate, in denen das Kindermädchen Amal ein Teil ihrer Familie war. Womit niemand rechnen konnte, war Amals verborgenes Gesangstalent. Anfangs ist es ein Geheimnis zwischen ihrem jüngsten Sohn Sam und Amal. Doch dann hören auch andere, wie grandios ihre Gesangsstimme ist.
Ein zweites Mal erfahren Zelda und ihre Familie, wie politische Ereignisse zu weitreichenden Folgen führen.
Jessica Durlacher wurde durch ihre preisgekrönten und zum Teil verfilmten Romane in den Niederlanden Bestsellerautorin. Sie thematisiert in ihrem neuen Roman wie das Private politisch wird. Als Beispiel zeigt die Autorin, wie Amal die Medien für ein brisantes Thema nutzt. Im Internet wird Amals Performance ein Dauerthema, dessen Eigendynamik weder sie noch Zeldas Ehemann Bor kontrollieren können. Was danach kommt, könnte man mit einer angekündigten Explosion vergleichen. Jeder sieht die brennende Zündschnur und hofft, irgendjemand würde ihr Glimmen und Zischen rechtzeitig aufhalten.
Praktisch könnte diese Geschichte in unterschiedlichen Schattierungen überall eine Heimat haben. Denn überall leben Flüchtlinge, die dabei Hilfe brauchen, mit ihrem politischen Ballast im Gepäck fertig zu werden. Denn Globalisierung findet nicht nur im Handel und der Verbreitung von Gütern aller Art statt. Andere politische und religiöse Ideologien kommen hinzu und können Ablehnung und Hass auf alles Fremde schüren. Im Fall von Amal erscheinen religiöse Fanatiker, die der jungen Frau ein Leben in Freiheit nicht erlauben. Wäre Amal kein Ausnahmetalent, wäre ihr Schicksal vermutlich schnell vergessen. Doch Amal steht im Fokus der Medien, und Zelda und ihre Familie müssen für sich einen vertretbaren Standpunkt finden, inwieweit sie sich einmischen wollen oder auch nicht.
Die Autorin überlässt ihrer Romanfigur Zelda, von den schicksalhaften Ereignisse zu erzählen. Zelda psychologisiert ihre Motive und hinterfragt immer wieder die Richtigkeit ihrer Entscheidungen. Hätte sie die Ereignisse verhindern können? Indirekt bearbeitet die Autorin dabei die Frage, ob ein Mensch völlig losgelöst von Politik und Gesellschaft generell ein unbeschwertes Leben führen kann. So oder so geht das Leben weiter. Zelda und ihr Sohn Philip stehen vor der Frage: Was ist mit den Schuldgefühlen, wenn man einerseits an die Richtigkeit seiner Handlungen glaubt und gleichzeitig mit den Folgen leben muss. Ihre Antworten und Optionen können kaum unterschiedlicher ausfallen.
Diesen wunderbar tiefgründigen Roman übersetzte Annelie Bogener aus dem Niederländischen.
Jessica Durlacher: Die Stimme.
Aus dem Niederländischen übersetzt von Annelie Bogener.
Diogenes, Mai 2022.
496 Seiten, Gebundene Ausgabe, 25,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Bovenkerk-Müller.