Berlin, 1929: Die „Goldenen Zwanziger“ neigen sich ihrem Ende zu. In einer liberalen Atmosphäre konnten sich Kunst, Theater, Film und Musik in einer Form entwickeln, die ihresgleichen sucht – originell und innovativ. Doch nun ist Hollywood einen Schritt voraus: Der Stummfilm gilt als überholt, der Tonfilm ist angesagt. Diesem Trend können sich die deutschen Studios, allen voran die UFA, nicht verschließen, auch wenn unter vielen Schauspielern und Regisseuren der Stummfilm als eigene Kunstform gilt, die nicht einfach ersetzt werden kann.
UFA-Chef Hugenberg nimmt die Herausforderung an, einen Film zu produzieren, der international einschlägt und zeigt, dass Deutschland den USA hier mehr als nur das Wasser reichen kann. Ein Wunschkandidat für die männliche Hauptrolle steht schnell fest: Emil Jannings, der erste Oscar-Preisträger, der sein Glück derzeit in Amerika versucht.
Hugenberg macht Karl Vollmöller zum „Mädchen für alles“, was die Organisation betrifft: „‘Mein lieber Herr Vollmöller‘, hob er an, ‚Sie besorgen mir Jannings und garantieren mir einen Stoff, der sich gewaschen hat, und ich (…) stelle Ihnen in Babelsberg eine Halle hin, in die Sie diese hier hineinschieben können!‘“ (Kapitel 7)
Hugenberg hält sein Versprechen: Er macht genügend Mittel locker, um in Babelsberg in Rekordzeit die modernsten Filmstudios hochzuziehen, die man sich vorstellen kann. Für Vollmöllers Aufgaben braucht es nicht nur Geld, sondern auch eine Menge Feingefühl, Taktik und Flunkereien. Denn sowohl Jannings als auch der favorisierte Regisseur Josef von Sternberg sind äußerst exzentrisch und von sich eingenommen. Und vor allem: Sie haben sich nach ihrem letzten gemeinsamen Film geschworen, nie mehr zusammenzuarbeiten.
Doch Vollmöller ist ein Genie und bringt schier Unmögliches zustande. Fast nebenbei luchst er noch Heinrich Mann die Rechte für die Verfilmung seines Romans „Professor Unrat“ ab und hat großen Anteil am Drehbuch. Der herausragende Stoff ist gefunden. Fehlt nur noch die weibliche Hauptrolle. Bewerberinnen gibt es genügend. Außergewöhnlich gute sogar. Doch Regisseur von Sternberg verguckt sich in die Revuetänzerin Marlene Dietrich, die zwar schon einige Filme gedreht hat, deren Schauspieltalent aber als ziemlich begrenzt gilt.
Die nervenaufreibende Arbeit an dem Film beginnt, der als „Der blaue Engel“ in die Kinos kommen soll. Nicht nur einmal steht das gesamte Projekt kurz vor dem Scheitern. Querelen, das divenhafte Verhalten von Jannings und Sternberg, explodierende Kosten und eine Marlene Dietrich, die sich nur ungern sagen lässt, wie sie die Rolle zu interpretieren hat: Permanentes Krisenmanagement – vor allem durch Vollmöller und Produzent Pommer – ist gefragt.
„Der blaue Engel“ gilt noch heute als Meilenstein der Filmgeschichte. Seine Entstehungsgeschichte zeichnet der Autor Edgar Rai in seinem neuen Roman beeindruckend und mitreißend nach. Er schafft eine so intensive Atmosphäre, prallvoll mit Lebensgefühl, dass man meint, mitten in Berlin in einer Kneipe zu feiern, in einer Revue zu sitzen oder über einen roten Teppich zu flanieren, rundherum die bekannten und (noch) weniger bekannten Namen dieser Zeit aus der Kunst- und Kulturszene. Jeder scheint jeden zu kennen. Altmodische Moralvorstellungen sind für viele Schnee von gestern. Dass diese offene Gesellschaft nicht lange Bestand haben wird, zeigen jedoch die Zeitungsartikel, die der Autor vielen Kapiteln voranstellt und die enge Beziehung, die UFA-Chef Hugenberg zu Goebbels und Hitler pflegt: Der nationalsozialistische Einfluss wächst unaufhaltsam und die Gefahr steigt, dass Freiheiten beschnitten werden.
Doch nicht nur das Feiern kann in rauschhafte Zustände versetzen. Die Leserinnen und Leser geraten gemeinsam mit der Crew nach und nach in einen Arbeitsrausch. Alles dreht sich nur noch um den einen Film, der neue Maßstäbe setzen soll.
Obwohl es von Figuren wimmelt, gelingt es Edgar Rai, jeder einen eigenen Charakter und den Protagonisten Tiefe zu geben. Keine der Hauptfiguren ist eindimensional, alle sind in ihren Zweifeln, ihrer Zerrissenheit genauso wie in ihrer zeitweisen Überheblichkeit und Selbstüberschätzung zutiefst menschlich. Und natürlich dürfen sie auch manchmal glücklich sein.
Wer sich für Filmgeschichte und die „Goldenen Zwanziger“ interessiert oder einen Roman lesen möchte, der bildstark und fesselnd, verführerisch und provokant in ein spannendes Geschehen entführt, sollte sich „Im Licht der Zeit“ nicht entgehen lassen.
Edgar Rai: Im Licht der Zeit.
Piper, August 2019.
512 Seiten, Gebundene Ausgabe, 22,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Beate Fischer.