Der Schotte Douglas Stuart (Jahrgang 1976) studierte Modedesign in London und arbeitete für bekannte Marken wie Calvin Klein oder Gap. Er lebt in New York. Für sein Erstlingswerk „Shuggie Bain“ erhielt Stuart 2020 den Booker Prize. Nun ist der halbautobiografische Roman am 23. August 2021 bei Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag erschienen. Übersetzt hat ihn Sophie Zeitz.
Douglas Stuart wuchs in Glasgow auf. Seine Mutter war alleinerziehend und alkoholabhängig. Sie starb als Stuart sechzehn Jahre alt war. Ihr hat er das Buch gewidmet.
„Shuggie Bain“, der eigentlich Hugh heißt, ist der jüngste Sohn von Agnes und Shug Bain. Seine Geschwister Leek und Catherine stammen aus Agnes’ erster Ehe mit Brendan McGowan. Sie leben Anfang der 1980er Jahre – zunächst zusammen mit Agnes’ Eltern, Lizzie und Wullie – in einer Hochhaus-Siedlung im Glasgower Stadtteil Sighthill. Big Shug Bain ist Taxifahrer und Macho. Er betrügt Agnes nach Strich und Faden mit anderen Frauen. Dann ziehen sie nach Pithead, einem heruntergekommenen Bergarbeiterdorf, um. Shug verlässt die Familie. Und Agnes, auf sich allein gestellt, säuft und lässt sich mit Männern ein, die ihr den nächsten Drink, das nächste Bier spendieren. Catherine geht mit ihrem Freund und Verlobten nach Südafrika. Und auch Leek haut irgendwann ab. Nur Shuggie harrt bei seiner über alles geliebten Mutter aus. Er verzeiht ihr alle Alkoholexzesse, ihr Selbstmitleid und ihr Gezeter. Für kurze Zeit wird Agnes mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker trocken. Sie hat einen neuen Freund, Eugene, der ebenfalls Taxi fährt. Doch die neue Liebe hält nicht lange. Agnes versinkt im Alkohol. Und Shuggie spürt immer mehr, dass er anders ist als die anderen Jungs.
Der Roman „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart ist sowohl Coming-of-Age-Story als auch Milieustudie. Im Glasgow der Arbeiter in den 1980er und 1990er Jahren unter der Regierung der „eisernen Lady“ Margaret Thatcher angesiedelt, beschreibt Stuart die Armut, den Dreck, die Gewalt und Hoffnungslosigkeit der Menschen. Alkohol gehört dabei zum „guten Ton“. Alle saufen: die Männer, weil sie schwer arbeiten oder keine Arbeit mehr haben. Die Frauen, weil sie dem traurigen Alltag in winzigen Wohnungen und vielen Kindern entfliehen wollen. Und die Kinder gehen zur Schule oder nicht, streunen durch die Straßen und mobben einander. Das läßt in mir als Lesende Erinnerungen an mein eigenes Aufwachsen in einer Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet äußerst lebendig werden.
Douglas Stuart entwirft die Figur Agnes Bain in all ihrer Widersprüchlichkeit. Sie ist wunderschön und stolz, und sie will mehr vom Leben. So wie sie aussieht, spricht und sich kleidet, gehört sie nicht zu den rauchenden und ausgeleierte Leggings tragenden Frauen der Bergleute. Auf ihrer Suche nach einem besseren Leben gerät sie an die falschen Männer mit ihren falschen Versprechen. So wird der Alkohol ihr bester Freund. Ihre Kinder geben den verzweifelten Kampf um die labile, schöne Mutter nach und nach auf. Nur der kleine Shuggie bleibt. Er liebt seine Mutter abgöttisch, und er hofft verzweifelt darauf, dass sie „gesund“ wird. Stuart läßt ihn das „volle Programm“ von Kindern suchtkranker Eltern durchlaufen. Dabei hat Shuggie eigentlich genug mit sich selbst und seinem Erwachsenwerden zu tun. Er interessiert sich für Glitzerponys statt für Fussball. Er ist gefühlvoll, statt rauflustig. Er ist kein „richtiger“ Junge.
Douglas Stuarts „Shuggie Bain“ ist beeindruckend gut. Wenn er z.B. die Szene beschreibt, in der Agnes nach einem Jahr ohne Alkohol wieder rückfällig wird, dann lese ich mit offenem Mund und angehaltenem Atem: „Das Einzige, woran sie sich sonst noch erinnerte, war, dass eine zweite Zimmertür aufging, und in der Tür stand der kleine Junge mit dem sorgenvollen Gesicht seiner Großmutter. Sein Gesicht war nass vor Enttäuschung. Seine Schlafanzughose war dunkel von Pisse.“ (S.351)
So ist das Buch, Kapitel für Kapitel, Seite für Seite wahrhaft Booker Prize würdig. Einzig Douglas Stuarts unberechenbare Perspektivwechsel im Erzählen nehmen der fulminanten Geschichte etwas an Qualität. Doch dafür haben Agnes und Shuggie Bain schon längst die Herzen der Lesenden erobert.
Douglas Stuart: Shuggie Bain.
Aus dem Englischen übersetzt von Sophie Zeitz.
Hanser Berlin, August 2021.
496 Seiten, Gebundene Ausgabe, 26,00 Euro.
Diese Rezension wurde verfasst von Sabine Sürder.
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